Seit Beginn des 20. Jahrhunderts spielte und spielt das Manifest in der Kunst eine wichtige Rolle. Der Katalog zur Ausstellung „Unendlicher Spaß“ präsentiert einige Manifeste – zwischen heiligem Ernst und purer Albernheit.

Wer hat Britpop und Punk erfunden? Wann ist ein Film ein Autorenfilm? Von Musik und Film bis zur Bildenden Kunst kann die Zuschreibung eines bestimmten Stils, die Zugehörigkeit zu Genre oder Szene auf zweierlei Weise erfolgen – von außen, nachträglich, oder als vorausgeschickte Selbstdefinition. Das Manifest bietet mit seiner strengen Form ein ganz besonders willkommenes Medium, die Möglichkeiten der Abgrenzung auszuloten.

Rien, rien, rien

Francis Picabia einem einzigen Stil zuzuordnen, ist schlicht unmöglich: Sein gesamtes Leben lang experimentierte der 1879 in Paris geborene Maler mit unterschiedlichsten Elementen, versuchte sich zunächst im Impressionismus, ließ sich von Kubismus und Fauvismus inspirieren, entdeckte später eine kurze Leidenschaft für den Surrealismus. Picabia liebte das Spiel mit den Uneindeutigkeiten und hielt wenig von starren Konventionen. Die Ideen der Zürcher DADA-Gruppe mit ihrer Negation bestehender Wertvorstellungen in Kunst und Gesellschaft imponierten ihm besonders. 1920 lässt Francis Picabia sein „Manifeste Cannibale Dada“ von André Breton am Dada-Abend im Pariser Théatre de la Maison de l'Oeuvre vortragen: Nachdem der Redner seine Zuhörer auffordert, sich zu erheben, wie man sich für einen König oder die Nationalhymne erheben möge, erklärt er später feierlich die vielleicht wichtigste Kernbotschaft des Manifests:

„DADA lui ne sent rien, il n'est rien, rien, rien“ [DADA riecht nach nichts, es ist nichts, nichts, nichts.]

Es folgt eine Aufzählung von Dingen, die ebenfalls nichts seien: Religion und Hoffnungen, Paradiese und Idole, Politiker und Helden. Ein nihilistischer Abgesang an Hierarchien, ein in seinem schelmischen Ernst fast schon rührender Befreiungsschlag für all jene, die tatsächlich geglaubt haben mögen, dass es mit dieser Kunstbewegung nur einen neuen Katalog an Regeln und Handlungsweisungen geben würde.

Politisch, künstlerisch, ganz privat

Den Anfang im Verkünden von Manifesten machte nur elf Jahre zuvor ein anderer: 1909 veröffentlichte der französische Le Figaro Filippo Tommaso Marinettis Futuristisches Manifest, das auf den ersten Blick zwar durchaus Ähnlichkeiten mit dem „Gott ist tot“-Ansatz des DADA aufweist, in seinem politisch gefärbten Pathos aber einen ganz anderen Ton anschlägt. Revolution, Zerstörung und Gewalt: Marinettis Futurismus sinnt auf das Absolute. Sein erstes Manifest könnte dem unwissenden Leser durchaus wie ein gänzlich unironischer Aufruf zum Kriege vorkommen – und doch sollte der Futurismus keine Scheiben einschlagen oder Häuser in Brand setzen, sondern ganz unblutig mit gesellschaftlichen und künstlerischen Konventionen brechen. Der radikal-politische Anspruch schwingt dabei trotzdem bei jedem der später noch zahlreichen vorgebrachten Manifeste immer im Hintergrund. Wobei sich Marinetti das passende Publikum aussucht, um in den 1910er-Jahren überhaupt noch für Aufruhr sorgen zu können: In den Provinztheatern seines Heimatlandes veranstaltete er Abende, an denen er zunächst eine Art Publikumsbeschimpfung durchführen ließ – erst danach folgten Lesungen neuer Manifeste, Performances und Kunstausstellung der Futuristen.

Futurismus, DADA, später Fluxus – häufig dienten Manifeste der Selbstdefinition einer mehr oder weniger lose verbundenen Gruppe von Künstlern. Entgegen ihres heiligen Ernstes dienen die feierlich vorgebrachten Erklärungen jedoch gerade nicht der Restriktion, sondern eröffnen dem Einzelnen gerade neue Gestaltungsräume – eben nicht zuletzt durch die Möglichkeiten zur (erneuten) Grenzüberschreitung. Das Künstlerpaar Gilbert & George verfasste demgegenüber ein fast schon privates Manifest, das qua Selbstdefinition der beiden Briten als „lebende Skulptur“ aber natürlich weit ins Öffentliche hineinreicht und erst hier überhaupt seine Wirkung entfalten kann. Das erste und bekannteste Gesetz der süffisant formulierten „Laws of Sculptors“ lautet: „Sei stets elegant gekleidet, gut frisiert freundlich höflich und stets in völliger (Selbst-) Beherrschung.“

Der Versuch, sich selbst zu definieren

In allen Fällen wird das Manifest als streng formale Angelegenheit natürlich nicht zufällig gewählt. Das äußere Korsett bietet überhaupt erst die Möglichkeit, sich an einer vermeintlich grenzenlosen – zumindest aber so erfahrenen – Welt abzuarbeiten. Denn obwohl es für die Futuristen und die DADA-Bewegung zwar durchaus noch äußere Konventionen zu brechen gab, so zeichnete sich doch bereits auch hier schon deutlich der allumfassende Umbruch ab; das neue Jahrhundert, in dem sich alles verändern sollte. Das Manifest setzt dem neue Regeln entgegen – und wenn die nur lauten mögen, künftig keine mehr zu akzeptieren. Selbst das scheinbar albernste unter ihnen ist eine Art Selbstermächtigung, ein Versuch, wieder Macht zu erlangen über das eigene Ich. Wie Kinder, die in phantasiereichen Rollenspielen behaupten, dass die Welt eben genau so und nicht anders funktioniere, bahnt sich auch das Manifest auf eine geradezu magische Weise seinen Weg in die schnöde Realität.