Outsider Art – diese Kunst, die keine Kunstform ist, entzieht sich einer klaren Einordnung. Was also ist sie? Martina Weinhart führt durch den Diskurs.

Jeder Mensch ist ein Künstler. Was Joseph Beuys im Zuge seines erweiterten Kunstbegriffes fordert – heute scheint es in den westlichen Gesellschaften fast selbstverständlich. Kreativität ist der Anspruch an den jungen Menschen, will man eine Zukunft haben, erfolgreich sein und dazugehören.

Auch der Konsum der Kunst, die Teilhabe an ihren Events und Ereignissen markiert ein Distinktionsmittel für gesellschaftliche Akzeptanz. Frei nach Bourdieu macht sie den feinen Unterschied und hilft dabei, die Frage zu klären, wer dazugehört und wer nicht. So wird ein Innen und ein Außen definiert und eine legitime Hochkultur von den Banalitäten des Alltags geschieden.

Dieser Prozess scheint symptomatisch für die Moderne, die sich in den Kämpfen ihrer Avantgarden stets besonders um die Demarkationslinie zwischen Innen und Außen bemüht. Wer ein Künstler ist und was unter welchen Bedingungen als Kunst gelten kann, das wird immer wieder neu verhandelt. Stets geht es um die Grenze und deren Überschreitung, sei es die der künstlerischen Konvention oder die der symbolischen Ordnung.

Es geht aber auch um die Suche nach dem Neuen, dem Ungewohnten, um die Faszination am Anderen und die Verlockungen hinter dieser Grenze. Der Outsider, der Einzelgänger außerhalb der Gesellschaft, aber auch der Nonkonformist, wird zur Projektionsfläche dieser Verlockung.

Jenseits des „offiziellen“ Kunstschaffens

Raum mit Kunstwerken von August Walla

Im englischen Sprachraum hat man sich für eine entsprechende Bezeichnung entschieden, um künstlerische Ausdrucksformen jenseits des „offiziellen“ Kunstschaffens zu beschreiben: Anfang der 1970er-Jahre prägt der britische Kunstkritiker Roger Cardinal den Begriff Outsider Art.

Auch wenn diese Benennung besonders in den Vereinigten Staaten heute nicht unbedingt als politisch korrekt empfunden wird, ermöglicht sie – im Gegensatz zu anderen gängigen Begriffen wie Art brut, Self-taught Art, Raw Art, Vernacular Art, Visionary Art, Folk Art, Deviante Kunst oder „neurodivers“ – eine Befragung der Werke nicht nur in ästhetischen, sondern auch in sozialen Begrifflichkeiten.

Der Schiffbruch der sozialen Persönlichkeit auf einer einsamen Insel, die nur noch aus dem Königreich des eigenen Ich besteht, ist das Bild, das Cardinal entwirft. Auf dieser Insel in der Gesellschaft entstehen Werke jenseits der üblichen Standards, unausgewogen und sperrig, ohne Anpassung, ohne Ausbildung, aus einem magischen Denken heraus und einer sehr persönlich geprägten Kultur.

Verschlungene Wege des Denkens

Skulpturen von Judith Scott

Was der Wahn zusammenbraut sind, wie Gilles Deleuze schreibt, „Rassen, Zivilisationen, Kulturen, Kontinente, Königreiche, Mächte, Kriege, Klassen und Revolutionen“.

Die fremde und zugleich befremdende neue Kunst wuchert still in den Randbezirken der Kulturstadt. Ihre Produzenten sind die „Irren“, die Geisteskranken, die Schizophrenen, die Psychotiker, die Gefangenen, die Mediumisten, die Sonderlinge, die Devianten aller Art.

Der Wortgebrauch erzählt somit gleichzeitig die Geschichte dieser kulturellen Grenzen, die immer wieder neu gezogen worden sind, von unterschiedlichen Auffassungen und Regeln marginaler Kulturäußerungen sowie grundsätzlich vom Umgang der Gesellschaft mit ihren Rändern.

Das Denken jenseits der Norm und die phantastischen Werke, die es entstehen lässt, faszinieren den Menschen ebenso wie die Unabhängigkeit des Künstlers jenseits der Akademie, der außerhalb des offiziellen Kunstbetriebs und seiner Gesetze arbeitet.

Gebunden an die schöpferischen Fähigkeiten, an seelische Zustände, die vom Alltäglichen, „Normalen“ mehr oder weniger abweichen, enthüllen die im buchstäblichen Sinn außergewöhnlichen Künstler in ihren Werken Überraschendes, oft Unerwartetes.

Holzarbeiten von Karl Junker

Sie beleuchten die Grenzen und Widersprüchlichkeiten des menschlichen Daseins und vermitteln eine tiefe Unruhe über die Beziehungen zwischen Wirklichkeit und Phantasie, nicht nur im Kunstwerk. Sie beleuchten die undurchsichtigeren Wege des Denkens und geben Anlass zu grundsätzlichen Fragen der Kreativität.