Von der ersten Zeichenschrift bis hin zur omnipräsenten Helvetica: Typografien waren immer mehr als bloß funktionaler Ausdruck von Sprache. Die Affichisten machten sich auf die Suche nach eingeschriebenen Bedeutungen – oder vergaben sie gleich selbst.

Was hat sie nur, das andere nicht haben? Die Schriftart Helvetica hat seit ihrer Erstellung im Jahr 1956 einen regelrechten Siegeszug in der westlichen Welt angetreten. 2011 wurde sie in einer digitalisierten Version auch für die Online-Sphäre verfügbar -- und wirkt heute so aktuell wie damals. Mit ihren perfekt aufeinander abgestimmten Schnitten und ihrem aufgeräumten Erscheinungsbild scheint sie den Zeitgeist einer ganzen Nutzergeneration widerzuspiegeln -- und selbst, wer auf Website, Blog oder in den aktuell massenhaft auftretenden neuen Bookazines und Lifestyle-Zeitschriften auf eine andere Typografie zurückgreift: Die Ähnlichkeit zur Helvetica ist oft kaum zu verbergen. Gern wird das mit der besonderen Lesefreundlichkeit und dem spezifischen Look begründet -- doch eben nicht nur: Neben ihrer reinen Funktion wohnt den unterschiedlichsten Schriftarten offenbar auch eine hohe emotionale Qualität inne; ob sich diese in der Ästhetik ausdrückt oder vielmehr durch diese vermittelt wird, bleibt der eigenen Interpretation überlassen. Eine schöne Typografie kann nicht nur Grafiker in Verzücken setzen; Schriftzüge aus den 20er-, 50er-, 60er-Jahren wissen selbst bei Spätergeborenen unmittelbar sentimentale Gefühle hervorzurufen. Wer hingegen einmal versucht hat, ohne besondere Vorkenntnisse ein Schriftstück beispielsweise in Sütterlin zu entziffern, der stellt schnell fest, dass auch die Lesefreundlichkeit kein so objektives Kriterium sein kann -- sondern vor allem eine Frage der Gewöhnung ist.

Die Schriften, die den Affichisten auf ihren Plakatabrissen begegneten, waren ihnen natürlich wohlbekannt. Trotzdem begaben sie sich in ihrer Arbeit gewissermaßen zurück in die Position eines Analphabeten, der versucht, das ihm Vorgefundene, das wilde Durcheinander aus Buchstaben (und hier auch Bildern) zu einem sinnigen Ganzen zu fügen -- oder, anders ausgedrückt, in die eines Forschers, der sich aufmacht, die modernen Hieroglyphen in einen neuen Deutungszusammenhang zu packen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das vielzitierte „Ach Alma Manetro", eine Décollage von Raymond Hains und Jacques Villeglé im Stile eines Tafelbildes, das nur noch den Eingeweihten an seinen Ursprung, den Hinweis auf eine Konzertveranstaltung, erinnert. Dabei veränderte sich das Ausgangsmaterial, die Sprache der Werbeplakate, im Laufe der Zeit durchaus: Waren diese anfangs noch deutlich kleiner und vor allem textbasiert -- wobei die Typografie naturgemäß eine besonders wichtige Rolle spielte -- so setzte man später immer mehr auf das überlebensgroße Bild. Regelrecht erforschend und entdeckend machten sich Francois Dufrêne und nahezu zeitgleich in Italien Mimmo Rotella ans Werk: Die Rückseiten der Plakatabrisse offenbarten immer wieder Schriftzüge und einzelne Buchstaben, die naturgemäß spiegelverkehrt auftauchten, was den geheimnisvollen Charakter der durchschimmernden Wortfetzen nur verstärkte; Dufrêne verzierte diese gern noch mit eigenen Worten in schönster Schreibschrift.

Sprache, Schrift und die Fragmentierung dieser interessierte die Affichisten auch auf anderen Ebenen: Hains und Villeglé erschaffen mit ihrem selbstgebauten Filmapparat, dem Hygnagogoskop, eine Art bewegter Poesie, in der Wort- und Buchstabenfetzen neu kombiniert oder weiter auseinandergenommen werden. Mimmo Rotella und Francois Dufrêne verfassten lautmalerische Gedichte, die bei aller Fragmentierung immer auch einen Rückschluss auf die jeweilige Muttersprache zuließen; Dufrêne erfand hierfür gar eine eigene Typografie, die in ihrer reduzierten Symbolhaftigkeit dann tatsächlich an frühe Hieroglyphen erinnert. Ganz in dieser Tradition versucht auch der Frankfurter Dichter und Vertreter der Konkreten Poesie Franz Mon, die Möglichkeiten der Schrift voll auszuschöpfen oder, wo möglich, ihre scheinbar gesetzten Grenzen aufzubrechen: Statt Buchstaben lediglich aneinanderzureihen, setzt Mon sie über-, unter- und nebeneinander, was seinen geschriebenen Gedichten somit eine fast schon dreidimensionale Qualität verleihen kann -- deren Umsetzung im Vortrag erst einmal ausgelotet werden will und die einen Bogen vom konkreten Objekt zur Repräsentation durch Sprache und schließlich Schrift und hieraus wieder in die konkrete Welt hineingreifend schlägt.

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