Der Akt unterliegt unterschiedlichen Konjunkturen, zeigt aber nie einfach einen nackten Körper, sondern sagt viel über seine Zeit. Die Männerakte von Helene Schjerfbeck widersetzen sich jedoch einer Einordnung in die Kunstgeschichte.

Ein nackter Männerkörper ist in der Kunst nie nur ein nackter Mann. In der Antike ist er Abbild eines idealen Typus, in der christlichen Kunst ist er wahlweise Adam vor oder nach dem Sündenfall oder er ist der versehrte Körper Christi. Die Moderne macht den Männerkörper frei von religiösen und moralischen Maßgaben und sorgt ab dem 19. Jahrhundert für einige Skandale. An denen ist Helene Schjerfbeck nur am Rand beteiligt. Aber ihre Aktdarstellungen sind doch nicht ganz aus der Zeit gefallen.

Ihr Bild "Der Segler" von 1918 zeigt mit kräftigen Pinselstrichen einen jungen Mann, bis zur Hüfte nackt. Der Körper mit seinen breiten Schultern ist kaum modelliert, sondern flach, wie aus Papier ausgeschnitten. Nur die Unterarme sind kräftig und plastisch. Die Farbflächen, die den Körper bilden, schließen kaum mit den schwarzen Umrisslinien ab, fast wie nachträglich hinzugefügt. Das Gesicht des vermeintlichen Seemanns ist fein gezeichnet. Der Kopf ist im Profil zu sehen, nur das vordere Auge ist ausgeführt, und der Blick trifft die Betrachtenden nicht. Die Wangenknochen treten hervor und die hohe Stirn glänzt.

Der Dargestellte weiß nicht, dass er beobachtet wird

Die Identität des jungen Mannes mit dem Schnauzbart ist geklärt: Es handelt sich um Einar Reuter, den Schjerfbeck insgesamt viermal porträtiert hat. Reuter, selbst Maler und Sammler, hat 1913 eine Reihe von Schjerfbecks Gemälden gekauft und ist 1915 nach Hyvinkää nördlich von Helsinki gefahren, um die Malerin persönlich kennenzulernen. Dort entstand das Porträt, das den Sammler bei einem Segelausflug zeigt.

Der zweite Akt ist fast so rätselhaft wie sein Titel: "Räuber am Tor zum Paradies". Ein hockender Mann wendet den Betrachtenden den Rücken zu. Anders als bei dem Segler ist das Volumen des Körpers zu erahnen, auch wenn die Gestalt einem grob behauenen Marmorblock ähnelt. Die Pose scheint ein Vorbild zu haben. Goyas Radierung "Der Koloss" (zwischen 1810 und 1817) kommt Schjerfbecks athletischem Männerakt sehr nahe. Nur thront Goyas Riese mit kaum zurückgehaltener Kraft und Aggression über einer finsteren Landschaft. Dabei blickt er herausfordernd über die Schulter, als hätte er gerade bemerkt, dass er beobachtet wird. Schjerfbecks Akt hat nichts von dieser ruhenden Bedrohlichkeit. Der Blick ist von den Betrachtenden abgewandt und der junge Mann ist ganz in sich versunken. Das Gemälde lässt keine Schlüsse auf eine Erzählung zu. Der Dargestellte weiß nicht, dass er beobachtet wird, und umgekehrt ist nicht herauszubekommen, was der Mann eigentlich gerade tut. Der Hintergrund ist reduziert auf ein paar dicke schwarze Pinselstriche, nur ein dunkelbrauner Halbkreis umgibt den Kopf des Hockenden wie ein Heiligenschein. Mit der unklassischen Pose und der schamhaften Abgewandtheit fehlt dem "Räuber am Tor zum Paradies" die selbstbewusste Erotik, die Reuters Porträt ausmacht.

Scham, Leid und der natürliche Mensch

Spätestens mit der Romantik hat im 19. Jahrhundert die männliche Aktdarstellung als Verkörperung des klassischen, überzeitlichen Schönheitsideals ausgedient. Im Industriezeitalter versichert sich das Bürgertum mit klassischen Motiven seines guten Geschmacks -- immer an der Grenze zum Kitsch.

Das genaue Gegenteil von überzeitlicher Schönheit findet sich bei Géricaults nackten Männerkörpern, die er etwa als Überlebende auf dem "Floß der Medusa" darstellt. Die versehrten Körper der Davongekommenen können nicht mehr für das Versprechen von Transzendenz einstehen. Der Männerakt wird in der romantischen Kunst zum Schauplatz von Leiden und Tod. Die symbolische Überhöhung von Aktdarstellungen geht aber im Lauf des 19. Jahrhunderts verloren. Von Renoir ist überliefert, dass er sich aus Scham weigerte, nach männlichen Aktmodellen zu zeichnen. Männerakte werden selten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Edouard Manets "Frühstück im Freien" sorgte für einen Skandal, weil es eine nackte Frau und zwei Männer im Anzug ohne klassische Verbrämung und in einer zeitgenössischen Szenerie zeigt. Als Helene Schjerfbeck ihr Kunststudium in Paris beginnt, ist Nacktheit mit Scham behaftet, und Frauen sind nicht zum Aktzeichnen an der Akademie zugelassen.

Der nackte Körper in Europa wird politisch

Als Schjerfbeck den "Segler" und den "Räuber" malt, hat aber längst eine Gegenbewegung eingesetzt. In Deutschland malen die Künstler der Gruppe Brücke nackte Körper in pastoraler Kulisse, und Gauguin ist in der Südsee auf der Suche nach dem besseren, dem natürlichen Menschen. Es gibt keinen Idealtypus mehr, der vorschreibt, wie ein schöner Körper auszusehen hat. Aber dazu hat Schjerfbeck keinen direkten Kontakt. Der "Segler" ist einem antiken Helden nicht unähnlich, und "Der Räuber am Tor zum Paradies" strahlt eine Versunkenheit und Unschuld aus, die der Titel nicht vermuten lässt. Etwas mehr als zehn Jahre nach Schjerfbecks Männerakten wird der nackte Körper in Europa politisch. In Arno Brekers Skulpturen und in Leni Riefenstahls Filmen werden die Errungenschaften der Moderne mit einem Übermaß an Pathos zurückgedrängt. Im Faschismus der 1930er-Jahre wird der nackte Männerkörper schließlich zum Symbol für den gesunden Volkskörper.