Der Hollywood Boulevard in Los Angeles, besser bekannt als „Walk of Fame". Die berühmten Sterne, die an Prominente aus der Pop- und Kinowelt erinnern, werden von Touristen jeden Tag tausendfach fotografiert. Auf Philip-Lorca diCorcias Fotografie sieht man auch so einen Stern, den von John Lennon. Dahinter liegt ein Mann, in buntkarierter Hose, mit strubbeligem Haar, in eine Decke gehüllt. Man betrachtet Autos, einen Bus, in der Ferne Passanten, eine Ampel steht auf Grün. Auf den liegenden Porträtierten fällt starkes Licht. Der Mann nennt sich Major Tom. Sein Geld verdient er auf dem Straßenstrich. Er ist aus Kansas City nach Los Angeles gekommen, für seine Dienstleistung berechnet er 20 Dollar. Das erfahren wir aus dem Bildtitel, den man gut und gerne unsentimental nennen darf: „Major Tom, Kansas City, Kansas, $20" heißt das Bild, das aus Philip-Lorca diCorcias Serie „Hustlers" stammt.

Mit der Serie „Hustlers", entstanden zwischen 1990 und 1992, gelang Philip-Lorca diCorcia der Durchbruch im Kunstbetrieb. In einer Einzelausstellung im New Yorker MoMA hat er die Bilder 1993 zum ersten Mal öffentlich präsentiert. Mehrmals war der Fotograf in die Welthauptstadt des Kinos gefahren, um seine Porträts von männlichen Prostituierten zu schaffen. diCorcia hat dort all die Orte und Motive eingefangen, für die die Stadt bekannt ist: die Diner, die etwas schäbigen Motels, ein ausgeblichenes Leuchtschild, das für „Del Taco" wirbt, den bekannten Santa Monica Boulevard, den „Walk of Fame". Doch seine Bilder erzählen nicht vom Aufstieg in Hollywood, erzählen nicht von Karrieren und großen Chancen, sondern von zerplatzten Träumen. Die Männer, die diCorcia ablichtet, sind ganz gewiss nicht aus der amerikanischen Provinz, aus Iowa, Pennsylvania, Colorado oder Arizona, nach Los Angeles gekommen, weil sie davon geträumt haben, dort auf den Strich zu gehen. Seine Hustler, das sind Gefallene in der Stadt der Engel. So gesehen passt es auch sehr gut, dass diCorcia selbst, immer wenn er nach Los Angeles gefahren ist, in dem Hotel übernachtete, in dem Janis Joplin zu Tode gekommen war.

diCorcias Porträts der Stricher aus Hollywood sind alles andere als klassische, spontane Straßenfotografien, auch wenn sie auf den ersten Blick so wirken. Für alle Bilder der Serie hat der Fotograf vor Ort mit künstlichem Licht gearbeitet. Diese Vorgehensweise wird er später in seinen Serien „Streetwork" und „Heads" noch perfektionieren, um Passanten unbemerkt fotografieren zu können. Außerdem hat diCorcia alle „Hustler"-Porträts en détail geplant. Die Orte hat er oft lange gesucht und aufwändig ausgeleuchtet. Mit einem Double hat er die Fotografien vorab inszeniert, Probeaufnahmen gemacht. Erst danach begab sich diCorcia dann auf die Suche nach einem Mann, der sich von ihm porträtieren lassen würde. Die Fotografien der „Hustler" sind bis ins Kleinste ausgefeilte Inszenierungen -- und wirken vielleicht gerade dadurch häufig so zufällig entstanden, so spontan.

diCorcia hat seine Models bezahlt. Er hat ihnen jeweils das Honorar gegeben, dass sie in der gleichen Zeit von ihren Freiern bekommen hätten. Die gezahlten Beträge werden alle in den Titeln genannt, sie variieren zwischen 20 und 50 Dollar. Dafür wurde der Fotograf oft kritisiert. Das NEA (National Endowment for the Arts) hatte das Projekt finanziert, deshalb warf man dem Fotografen vor, dass er Prostituierte mit Steuergeldern bezahlen würde. Diese Anschuldigung ist gewiss zynisch (hätte diCorcia mit dem Geld der NEA zum Beispiel Handwerker bezahlt und fotografiert, wäre es wohl niemals zu einem solchen Aufschrei gekommen), sie zeigt aber auch, wie prüde die amerikanische Gesellschaft in den 1990er-Jahren war, wie schwierig es damals noch war, die Schattenseiten des amerikanischen Traums darzustellen. Die Männer auf diCorcias Bilder sind präsent, ohne auffällig zu posieren. Sie, die sonst im Verborgenen leben, werden durch seine Porträts sichtbar. So zwingt uns Philip-Lorca diCorcia ganz ohne jeden moralischen Appel, über die Umstände, unter denen diese Männer ihr Leben führen müssen, nachzudenken.