Der Komponist Erik Satie war in Montmartre außerordentlich gut vernetzt: Er arbeitete unter anderem mit Pablo Picasso und Sergei Djagilew zusammen, um sein offenes und mehrdimensionales Verständnis von Musik umzusetzen.

1,5 Meter breit, zwei Meter lang und drei Meter hoch. Das sind laut Contaime de Latour, einem Freund des Komponisten, die Maße des Zimmers, das Erik Satie in Montmartre in der Rue Cortot 6 bewohnt haben soll. Licht fiel durch ein dreieckiges Loch, das sich unter der Decke befand. Die Einrichtung belief sich auf ein Bett und ein Klavier. Wollte man das Zimmer betreten, stieß man die Tür gegen das Bett, auf welches man zwangsläufig hinaufsteigen musste. Das Bett war denn auch der einzige mögliche Aufenthaltsort in diesem "Wandschrank", wie Satie seine Behausung bisweilen zu nennen pflegte.

1887 war der Einundzwanzigjährige nach Montmartre gezogen. Rodolphe Salis stellte ihn 1888 als zweiten Klavierspieler im berühmten Kabarett Chat Noir an. Neue Gäste wurden von einem Schweizer Gardisten mittels dreier Stöße mit seiner Hellebarde auf den Boden namentlich den Anwesenden angekündigt. Das Chat Noir war an den Wänden mit mittelalterlichen Pappmachémauern dekoriert, an denen alte Rüstungen und Helme hingen. Die Kellner trugen die offizielle Kleidung der Mitglieder der Académie Française. Diese ironischen Seitenhiebe dürften Satie gefallen haben, vereinten sie doch zwei Interessen des jungen Musikers: Sein erster Klavierlehrer, Kirchenorganist Vinot, begeisterte Satie für die Gregorianik, mittelalterliche Malerei und Mystik. Sein Onkel Seabird hingegen besuchte mit dem jungen Satie den Zirkus, später in Montmartre kam das Kabarett hinzu. So fand die zeitgenössische Musik in Form von Zitaten und ironischen Parodien Eingang in seine Kompositionen und deren Titel. Claude Debussy warf Saties Werken einmal Formlosigkeit vor – wenige Wochen später erschien eine Werksammlung Saties mit dem Titel "Trois Morceaux en forme de Poire", wobei das Französische Wort Poire für Birne auch "Dummkopf" oder "Idiot" bedeuten kann.

Satie, der nicht zwischen ernsthafter und unterhaltender Musik unterscheiden mochte, interessierte sich neben der akademischen Musik auch für neue populäre Musik- und Kunstformen, die Musik der Kabaretts, der Kaffeekonzerte und den Jazz. Er schrieb weit über 70 Lieder für Chansonniers, vertonte Gedichte, schrieb für das Ballett und später auch Begleitmusik für den aufkommenden Stummfilm. Seine Partituren sind gespickt mit Anweisungen für die Interpreten und nicht selten ergänzt um Zeichnungen. Diese sind keineswegs Selbstzweck, sie gehören zum Kunstwerk dazu, so dass einzig der Interpret den Gesamtzusammenhang des Werks erfassen kann, der Hörer erfährt nur einen Teil der Absichten Saties. Dieser Anspruch an die Kunst bediente sich der Mehrdimensionalität der Auffassungsgabe des Menschen. Satie arbeitete mit den verschiedensten Mitteln und Menschen an der Umsetzung dieses Anspruchs. Montmartre bildete das Biotop, in dem die unterschiedlichen Künste und Künstler aufeinander treffen konnten. Für Sergei Djagilews Compagnie "Ballets Russes" beispielsweise schrieb Satie nach einer Idee Jean Cocteaus "Parade". Picasso entwarf Kostüme und Bühnenbild, Léonide Massine entwickelte die Choreografie und Ernest Ansermet dirigierte.

Diaghilev's "Ballets Russes" 1917, Bühnenbild und Kostüm: Pablo Picasso, Musik: Erik Satie

Obschon Satie 1898 vor die Tore von Paris nach Arcueil gezogen war, blieb er Montmartre verbunden. Hier fanden die Elemente seiner kompositorischen Techniken und künstlerischen Haltung ihre räumliche Entsprechung: Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Montmartre in rasendem Tempo, mit der Industrialisierung und dem Bahnhof kamen die Arbeiterwohnungen und der Müll aus dem Zentrum der Stadt. Satie komponierte, abseits der herrschenden Strömungen der französischen akademischen Musik, gegen die wagnerianische Entwicklung in der Musik, mithilfe des Zitats und Montagetechniken, mit Repetitionen und Auslassungen. Im Eklektizismus der zu dieser Zeit im Bau befindlichen Sacré-Cœur de Montmartre spiegelte sich Saties Hang zum historisierenden Blick und der gregorianischen Harmonik. Die ehemaligen Kommunarden, die Künstler, die Arbeiter, die Prostituierten, die Pilger, die Trinker und Kriminellen bedeuteten ihm Lebenswelten, die sich vom bürgerlichen Flanieren auf den Haussmann’schen Boulevards deutlich unterschieden. Wenn er in den frühen Morgenstunden nach Hause ging trug er einen Hammer bei sich, um etwaige Überfälle abzuwehren. In der Zugänglichkeit, im Humor und nicht zuletzt im Erfolg der Unterhaltungsmusiken der Kabaretts und Varietétheater bestätigte sich sein Misstrauen gegenüber der "ernsthaften" Musik. Kubismus, Surrealismus, Dadaismus in Literatur und Malerei stärkten sein Bedürfnis nach einer Musik, die nicht auf die Manipulation der Gefühle, auf Pathos und Überwältigung abzielt. Seine Musik sollte "musique d’ameublement" – "Möbelmusik" sein. Sie soll wie ein beliebiger Gebrauchsgegenstand, ein Wandschrank etwa, im Alltag dienen.