Die September-Ausgabe des DOUBLE FEATURE präsentiert die neue Arbeit “The Vampyre” der britischen Künstler Tai Shani. Im Anschluss an ein Künstlergespräch wird ihr Lieblingsfilm „Ludwig – Requiem für einen jungfräulichen König“ zu sehen sein.

In Sigmund Freuds 1926 erschienenem Werk „Die Frage der Laienanalyse“ resümiert der Begründer der Psychoanalyse: „Vom Geschlechtsleben des kleinen Mädchens wissen wir weniger als von dem des Knaben. Wir brauchen uns dieser Differenz nicht zu schämen; ist doch auch das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes ein dark continent für die Psychologie.“ Dass jenes, was dem Menschen unbekannt ist, ihn verängstigt und nicht selten in Aggression gegen das Unbekannte oder das mit ihm Gleichgesetzte sich Bahn bricht, findet seine Entsprechung sowohl in Vergangenheit und Gegenwart. Die Misogynie der männerdominierten Welt hinterlässt so eine Spur sowohl psychischer als auch physischer Gewalt hindurch die gesamte Menschheitsgeschichte.

1405 stellte die französische Schriftstellerin und Philosophin Christine de Pizan ihr Werk „Le Livre de la Cité des Dames“ (Das Buch von der Stadt der Frauen) fertig, welches als Antwort auf das frauenverachtende Buch „Lamentationes Matheoli“ des Geistlichen Matthaeus entstanden war. Le Livre de la Cité des Dames, das zu den ersten Werken feministischer Literatur gezählt wird, handelt vom Erbau einer Stadt für Frauen, die Schutz vor Frauenhass und in dessen Namen verübter Gewalt bieten soll und stellt gleichzeitig eine umfassende Aufzählung bemerkenswerter historischer weiblicher Persönlichkeiten dar.

Die in London ansässige Künstlerin Tai Shani (*1976) bezieht sich in ihrer multimedialen Installation „Dark Continent“ als eine Art Assoziationsursprung sowohl auf de Pizan als auch auf Freud. Die Installation, die sich aus mehrteiligen Performances, Text-, Sound- wie auch Video-Schnipseln zusammensetzt, scheint eine eigene, jenseits jeder Realität existierende Stadt der Frauen heraufzubeschwören, in der Kategorien wie Femininität, Fremdheit, Subjektivität und Geschlechterrollen schlechthin vollkommen transzendiert werden. Die Arbeit „The Vampyre“ (2015), welche Shani im DOUBLE FEATURE präsentieren wird, versteht sich als Teil der gesamten Installation.

In vergangenen Arbeiten machte sich die Künstlerin eine vergleichbare Arbeitsweise wie in „Dark Continent“ zu Nutze. Immer wieder bezieht Shani sich auf entweder historische Ereignisse oder auch (pop-)kulturelle Erzeugnisse und arbeitet sich ausgehend von diesen als Startpunkt an hierzu assoziierten Themen ab. Während ihre Perfomance „Last Night I dreamt I was Venus from Beyond the Mirrors“ beispielsweise auf Salvador Dali’s „Dream of Venus Pavilion“ rekurriert, bezieht sich Shani so in „Thee Kitty Genovese“ (2008) auf den bekannten Mordfall an Catherine Genovese, die 1964 vor bzw. in ihrem New Yorker Appartement von Winston Moseley tätlich angegriffen und vergewaltigt wurde und schließlich ihren Verletzungen erlag. Der Fall erregte großes Aufsehen und verursachte eine breit geführte Debatte hinsichtlich der Kaltherzigkeit innerhalb der modernen Gesellschaft, da seinerzeit angenommen wurde, dass insgesamt 38 Anwohner den Mord mitverfolgten, von diesen jedoch niemand eingriff. In „Thee Kitty Genovese“ verwebt Shani sich wiederholende Sequenzen zu einer düsteren Collage über Gewalt und Sexualität.

Eine ähnliche Arbeitsweise kann man Hans-Jürgen Syberberg (*1935), dem der Filmkritikerin Katja Nicodemus nach „besessensten Regisseur der Nachkriegszeit“ unterstellen. In seiner mittlerweile als „Deutsche Trilogie“ bekannten Filmreihe versuchte der Regisseur in seinen Worten „Ursprünge vielleicht vieler jetziger Entwicklungen zu suchen“. Die Trilogie beginnt so mit „Ludwig - Requiem für einen jungfräulichen König“ (1972), beschäftigt sich zwei Jahre später mit Karl May, um 1977 schließlich im monströsen Monumental-Werk „Hitler – Ein Film aus Deutschland“ zu landen, der – produziert von Bernd Eichinger – in seiner Länge von knapp sieben Stunden, Hitler als „eine Synthese des deutschen Wahns dieser Zeit“ zu begreifen und verstehbar machen möchte, wie der Kulturtheoretiker und Literaturwissenschaftler Klaus Theweleit zusammenfassend erklärt.

In seinem Ludwig-Film lässt Syberberg das Ensemble vor Rückprojektionen agieren und baut Querverweise zu den anderen Teilen seiner deutschen Trilogie auf, indem er sowohl Karl May als auch Wagner und Hitler im Film antreten lässt und zueinander in Beziehung stellt. Sein Werk kann so produktionstechnisch wie auch narrativ als eine Art Gegenentwurf zu der im gleichen Jahr veröffentlichen Ludwig-Verfilmung des italienischen Regisseurs Luchino Visconti angesehen werden, die wiederum Teil dessen deutscher Trilogie ist. Syberbergs Arbeitsweise indes verknüpft so Historisches mit Politischem wie auch Gesellschaftlichem, setzt diese assoziativ wie auch avantgardistisch miteinander in Beziehung und schließt so den Kreis zu Tai Shanis Arbeiten.