Der Künstler Heinrich Vogeler sympathisierte mit der aufkommenden Bewegung der Christ-Revolutionäre. Die propagierte Reform der modernen Gesellschaft durch eine Rückkehr zu Mensch und Natur erprobte Vogeler im Kleinen in seiner "Birkenhoff" Kommune.

Das Werk Heinrich Vogelers wird im kunsthistorischen Kanon üblicherweise in zwei Phasen unterteilt, die des Jugendstils und die des sozialistischen Realismus. Vor allem die dem Jugendstil zugeordneten Malereien und Radierungen, idyllische, stilisierte Naturdarstellungen, norddeutsche Moorenlandschaften und Birkenwälder, haben Vogeler bekannt gemacht. Die Tatsache, dass der Künstler stark mit den Christ-Revolutionären sympathisierte und eigene Schriften über die Gebote und Werte des Ur-Christentums verfasste, fügen seinem Werk jedoch neue Bedeutungseben hinzu und eröffnen interessante Lesarten.

1872 in Bremen geboren, schließt sich Heinrich Vogeler 1894 der Künstlervereinigung in Worpswede an. Ein Jahr später kauft er dort den Barkenhoff, ein Anwesen, das als Refugium für eingeladene Künstler und Intellektuelle und als Zentrum der Worpsweder Künstlerkolonie diente. 1914 meldet sich der norddeutsche Künstler als Kriegsfreiwilliger, zeigt sich jedoch bald entsetzt von den Gräueltaten. In einem Brief an seine Töchter schreibt er: "Gäbe es überhaupt nur Christen, wahre Christen, so ist ein Krieg wie dieser unmöglich." Vogelers Überzeugung, das Christentum könne die moderne Gesellschaft durch die Berufung auf ur-christliche Werte wie Gemeinschaftlichkeit, Liebe und der Wertschätzung des Individuums revolutionieren, hat durch seine Erfahrungen im Krieg und die Revolution in Russland von 1917 nur noch an Nachdruck gewonnen.

Als Vogeler 1918 nach Worpswede zurückkehrt, fühlt er sich in seinem pazifistischen und kommunistischen Glaube bestärkt und wandelt den Barkenhoff in eine Kommune um, die in den folgenden Jahren zur Anlaufstelle für Kommunisten und Aktivisten wie Marie Griesbach, Leitfigur der Frauen- und Arbeiterbewegung und kurzzeitige Geliebte Vogelers, oder den vegetarischen Antimilitaristen Friedrich Harjes, der mit seiner ganzen Familie auf dem Barkenhoff wohnte, wurde. Harjes wird von Vogeler porträtiert, das Bild zeigt ihn auf dem Hof arbeitend, umgeben von seinen nackten Kindern. Es zeugt von ungezwungener Freiheit und friedlicher Gemeinschaftlichkeit, prinzipielle Werte für Heinrich Vogelers reformistische Vorstellung des Zusammenlebens auf dem Barkenhoff.

Erste Verknüpfungen Vogelers mit den Christ-Revolutionären kristallisierten sich allerdings bereits vor dem Ausbruch des Krieges heraus. Seine Radierung "Vision" von 1914 erscheint auf dem Titel der Zeitschrift "Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst." Das von dem Publizisten und Literaturkritiker Franz Pfemfert herausgegebene Magazin war bekannt für seine linkspolitische Haltung und fungierte als Plattform für die Verbreitung tolstoianischer Ansichten.

Tolstoi, dessen Schrift "Das Himmelreich" (1894) die Vorstellung eines den Menschen innewohnenden Gottes sowie eine Ethik des Pazifismus und der Liebe propagierte, war für die Christ-Revolutionäre und auch für Vogeler ein wichtiger Einfluss. "Vision" zeigt dies deutlich: eine Mutter kniet vor ihrem neugeborenen Kind, gleißende Lichtstrahlen gehen von ihr aus, eine übermenschlich große Hand berührt ihren Kopf und scheint sie zu segnen. Hinter ihr tut sich der Himmel auf. Erleuchtung, religiöse Offenbarung und die Frau als Schöpferin menschlichen Lebens sind wiederkehrende Motive in Vogelers Werk und zeugen von seinem durchaus individualistischen Zugang zum Christentum und der Überzeugung, dass der Mensch – und vor allem die Frau – Trägerin, da Schöpferin, einer "neuen Welt" sei.

In den 1920er-Jahren wird Heinrich Vogelers Rolle als Künstlerprophet und Symbolfigur der Christ-Revolutionäre immer deutlicher. In Schriften wie "Der Leib" (1920) und "Kosmisches Werden und menschliche Erfüllung" (1921) vertieft er seine Ausführungen über religiöse Brüderlichkeit, gemeinschaftlichen Willen, Liebe und menschliche Schöpfung. In seinen Ausführungen lassen sich Bezüge zu dem Gedankengut verschiedener Propheten und religiösen Bewegungen ausmachen: Vogeler bezieht sich implizit auf das Quäkertum und dessen Auffassung, die Kraft Gottes liege im Individuum. Und auch Rudolf Steiners Anthroposophie und Diefenbachs Lebensreform-Ideen beeinflussen ihn maßgeblich.

1922 lernt Vogeler seine spätere Frau Zofia (Sonja) Marchlewska kennen. Er verlässt den Barkenhoff und reist mit Marchlewska nach Moskau, wo er seinen Stil der montageartigen Komplexbilder entwickelt, deren Motive teils stark vom sozialistischen Realismus beeinflusst sind. In dieser Zeit entsteht "Die Geburt des neuen Menschen", ein Schlüsselwerk, das seine religiöse und reformpolitische Haltung auf den Punkt bringt. Eine nackte Frau scheint über einem Haufen Totenschädel zu schweben, in ihren Armen hält sie ein neugeborenes Kind. Hinter ihr erstreckt sich eine Stadtansicht, die in ihrer kristallartigen Zersplitterung Zwiebeltürme, ähnlich denen der Basilius Kathedrale auf dem Roten Platz, erkennen lässt. Gelbe Sterne auf rotem Grund erinnern an die russische Revolution, Totemartige Fratzen säumen die grauen Schädel und die Schatten, die von ihnen emporsteigen. "Die Geburt des neuen Menschen" wird häufig als Widmung an Vogelers Sohn Jan, der im selben Jahr geboren wurde, interpretiert. Neben jenem biographischen Bezug zeigt sich jedoch deutlich das Motiv der Auferstehung sowie die Vision eines "Neuen Menschen", einer neuen Form des Menschseins durch den Kommunismus und das Christentum – und mit dem Künstler als Erlöser.