Revoluzzer Gustave Courbet gehört zu Jeff Koons’ großen Vorbildern, das aufsehenerregende Gemälde „L’Origine du Monde“ inspirierte ihn besonders.

Gustave Courbet verstand es im 19. Jahrhundert, die Gemüter seiner Zeitgenossen zu erhitzen. Als der französische Maler 1866 sein Werk „L'Origine du Monde (Der Ursprung der Welt)" präsentierte -- eines der Hauptwerke des von ihm selbst begründeten französischen Realismus -- reagierte das bürgerliche Pariser Kunstpublikum empört. Es zeigt den Ausschnitt eines nackten Frauenkörpers mit zum Betrachter hin geöffneten Schenkeln und stellt das weibliche Geschlecht so explizit und präzise dar, wie es niemand zuvor auf einem Gemälde getan hatte. Das war zu viel. Und das ist es offensichtlich heute noch: Als das Bild 2008 im New Yorker Metropolitan Museum of Art gastierte, war es hinter einem schwarzen Samtvorhang versteckt, Zutritt ab 18.

Courbet, dem die SCHIRN im Winter 2010/2011 eine viel beachtete Schau widmete, zählt zu Koons' großen Vorbildern. Seine jetzt in der SCHIRN ausgestellten Adaptionen von „L'Origine du Monde" sind als Hommage an diesen Erneuerer und Wegbereiter zu lesen. Eine in weißen geschwungenen Linien skizzierte Vagina variiert Koons in der Serie „Hulk Elvis" mit unterschiedlichen Hintergründen, etwa in „Landscape (Waterfall) I" aus dem Jahr 2007 mit einem an Sigmar Polke erinnernden Punkte-Raster und pastosen Farbklecksen.

Schon Duchamp adaptierte das legendäre Motiv

Auch das wie mit Filzstift skizzierte Vexierbild in „Antiquity 1" (2012), das sowohl als Segelboot als auch als Vagina gesehen werden kann, verweist auf „L'Origine du Monde". In ironischer Weise, da das eigentliche Motiv hier ja für den ersten Blick versteckt wird -- wenn auch nicht hinter einem Vorhang. Koons ist nicht der erste Künstler, der sich so explizit auf Courbets legendäres Motiv bezieht. Marcel Duchamps letztes Werk „Étant Donnés" zum Beispiel zeigt ebenfalls den Ausschnitt eines nackten Frauenkörpers mit gespreizten Beinen. André Massons Vexierbild „Cache Sexe" adaptiert „L'Origine du Monde" in kalligrafisch geschwungenen weißen Linien als Seerosen auf einem Teich.

Courbets Tabubruch empfindet so mancher Betrachter noch heute als anstößig, auch die in den 1980er-Jahren entstandenen, expliziten Szenen in Koons' Werkserie „Made in Heaven" sorgen immer wieder für Aufsehen. Sie zeigen ihn beim Sex mit seiner Exfrau, der Pornodarstellerin und Politikerin Ilona Staller. Doch was ist eigentlich der Skandal? Bei Koons wie bei Courbet entsteht er erst durch das sich empörende Publikum, die Decodierung macht das Werk komplett.

Der Prozess von Codierung und Decodierung ist für die Kunst von Courbet und Koons zentral, das wird in „L'Origine du Monde" und auch in „Made in Heaven" besonders deutlich. Beide Künstler wählen bewusst Codes, die jeder lesen kann -- ohne allegorische Umschweife. So betonen beide in ihren Werken das soziale Potenzial von Kunst. Koons weist immer wieder darauf hin, dass er Kunst für alle mache, nicht nur für eine Elite von Kennern. Courbet sagte sogar über sich, er sei ein sozialistischer Maler.

Ein Künstler in der Pariser Kommune

Auf jeden Fall war Courbet Revoluzzer. Als Mitglied der Pariser Kommune, ein im Jahr 1871 nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges für etwas mehr als zwei Monate in Paris regierender revolutionärer Stadtrat, mischte er in der Politik mit, was schließlich zu seiner Flucht in die Schweiz führen sollte. Hochpolitisch war auch seine Kunst, propagierte sie doch Selbstbestimmung und Demokratisierung.

Den Realismus empfand Courbet als adäquatestes Mittel, um seine Ziele zu erreichen, also den Betrachter aufzurütteln und ihn letztlich zu emanzipieren. „L'Origine du Monde" war ein kalkulierter Tabubruch. Auch Koons' Realismus ist kalkulierte Provokation. Über Grenzen geht er bewusst und gerne.