Gustave Caillebotte beeindruckte seine Zeitgenossen durch radikale und moderne Bildkompositionen. Auch der Norweger Edvard Munch wurde von Caillebotte inspiriert.

Am 18. Oktober 2012 eröffnet in der SCHIRN die Ausstellung „Gustave Caillebotte. Ein Impressionist und die Fotografie". Der französische Maler Gustave Caillebotte (1848-1894) und der Norweger Edvard Munch, dem die SCHIRN Anfang dieses Jahres eine umfang- und erfolgreiche Schau widmete, kannten sich persönlich. Sie begegneten sich in Paris, wo sich Munch ab 1889 mit einem Kunststipendium aufhielt. Munch verkehrte dort unter anderem im Kreis skandinavischer Künstlerkollegen, die -- wie er angezogen von der französischen Avantgarde -- Schüler des Malers Léon Bonnat (1833-1922) wurden: Munch war 1889/90 und Gustave Caillebotte bereits zu Beginn der 1870er-Jahre in dessen Atelier eingeschrieben. Bonnat besaß einen ausgezeichneten Ruf als Porträtmaler der Pariser Gesellschaft, wurde von der jungen aufstrebenden Künstlerschaft jedoch vor allem als Lehrer hochgeschätzt.

Die Fotografie veränderte die künstlerische Wahrnehmung

Seine Lehrmethoden schlossen sowohl das traditionelle akademische Rüstzeug künstlerischer Ausbildung ein -- wie das Zeichnen nach dem lebenden Modell und nach der Natur -- als auch eine aufgeschlossene Haltung gegenüber dem bis zu Beginn der 1880er-Jahre kritisch beäugten Impressionismus (Bonnat war mit Edgar Degas befreundet). Neuen Formen der Wahrnehmung gegenüber aufgeschlossen, nutzte Bonnat bereits ab den 1860er-Jahren die Fotografie als künstlerisches Hilfsmittel. Das war in jenen Jahren, da die Fotografie noch nicht als eigenständiges künstlerisches Medium galt (dies geschah erst um die Jahrhundertwende), unter den Künstlern zwar geläufig, wurde aber nicht publik gemacht.

Abb. 1: Gustave Caillebotte, Ein Balkon, Boulevard Haussmann (Un balcon, Boulevard Haussmann), 1880, Privatsammlung

Für Caillebotte, zeitlebens von Kritikern und Künstlerkollegen als Schüler von Bonnat benannt, war die Ausbildung bei diesem Lehrer formend hinsichtlich seines Interesses an perspektivischer Zeichnung und der Berührung mit der Fotografie. Heute ist unbestritten, dass das um 1840 erfundene fotografische Verfahren eine Veränderung der künstlerischen Wahrnehmung mit sich brachte und spätestens seit Mitte des Jahrhunderts so präsent war, dass sich mehr oder weniger jeder Künstler damit konfrontiert sah. Fraglos betraf dies auch einen so unkonformistischen Künstler wie Gustave Caillebotte, auch wenn wir heute keinen spezifischen Nachweis dafür haben, wie und in welchem Umfang er fotografisches Material kannte oder nutzte.

Gewagte Blickwinkel, erstaunliche Raumkonstellationen

Tatsächlich erschließen Caillebottes Gemälde durch ihre radikalen, heute sehr modern anmutenden Kompositionen den engen Zusammenhang von Malerei und Fotografie in der Herausbildung eines neuen Sehens. Durch ihre besondere Perspektive sowie die Thematisierung von Bewegung und Abstraktion nehmen sie einen fotografischen Blick vorweg, der sich erst später in diesem Medium herausbildete. Mit Aufsicht, Schrägsicht, Nahaufnahmen und Objektfragmentierung setzt Caillebotte Stilmittel ein, die auf verblüffende Weise denjenigen des »realistischen Mediums« der Fotografie ähneln. Zuweilen kommt er dabei in seinen Bildern den Umsetzungen der Neuen Fotografie der 1920er-Jahre, Fotografien von Kértesz, Rodtschenko, Moholy-Nagy und anderen erstaunlich nahe.

Abb. 2: Edvard Munch, Rue La Fayette, 1891, The National Museum of Art, Architecture and Design, Oslo

Während Vergleichbares in der zeitgenössischen Fotografie fehlte, wurde die Malerei bei Caillebotte zum Experimentierfeld: Gewagte Blickwinkel suggerieren durch erstaunliche Raumkonstellationen und Verkürzungen die Macht, die der Mensch durch seine Herrschaft über die Umwelt ausübt. Wie vorbildhaft Caillebotte bereits für seine Zeitgenossen war, belegt der Kontakt mit Munch. Munch besuchte den Maler, der in den Kreisen norwegischer Kritiker und Künstler mit seinen revolutionären Bildgestaltungen als der revolutionärste Vertreter der Avantgarde galt, in dessen Pariser Wohnung.

Weit in die Moderne vorausgreifend

Der Grund dafür ist leicht zu erraten: Caillebotte, der finanziell bestens abgesichert war, hatte um 1889 bereits eine viel beachtete Sammlung von Gemälden seiner impressionistischen Künstlerfreunde zusammengetragen. Sie ging nach seinem Tode als Schenkung an den französischen Staat über und bildet heute das Herzstück des Pariser Musée d'Orsay. Munch war wie seine skandinavischen Kollegen von der neuen impressionistischen Kunst und deren Umsetzung moderner Wahrnehmung fasziniert. So verwundert es nicht, dass Munch nach dem Besuch eine eigene, durch Caillebottes radikale Kompositionsweise (Abb. 1) inspirierte Sturzperspektive hinab auf den Straßenraum von Paris malte (Abb. 2). Während sich bei Caillebotte die Ästhetik der durch Haussmann modernisierten Metropole Paris im fotografischen Blick auf eine bürgerliche Promenade manifestierte, wurde sie bei Munch mit fahrenden Kutschen und anonymen Fußgängern, die nur noch Bewegung assoziieren, gleichnishaft. Der französische Fotograf Constant Puyo behauptete später, er habe auf Munchs Gemälde und damit indirekt auf Caillebotte Bezug genommen, als er in der gleichen dynamischen Perspektive den Blick vom Balkon hinab fotografierte (Abb. 3).

Abb. 3: Constant Puyo, Montmartre, Paris, um 1900, Abzug weist unten links eine Fehlstelle auf, Musée d'Orsay, Paris

Caillebotte war mit seinen Bildgestaltungen, die den gängigen Blick auf die Stadt und deren Bewohner aufbrachen und weit in die Moderne vorausgreifen, tatsächlich ein Pionier der Moderne und nicht nur für Munch und dessen künstlerische Herausbildung eines modernen Blicks anregend. Dies in einer ersten retrospektiv angelegten Ausstellung seines Werkes -- eingebunden in die Positionen der zeitgenössischen und avantgardistischen Fotografie -- einem breiten Publikum nahe zu bringen ist das spannende Thema der Schau: „Gustave Caillebotte. Ein Impressionist und die Fotografie."