Der Maler Auguste Chabaud durchstreift einsam das nächtliche Montmartre. Seine Motive sind die Flaneure, Prostituierten und natürlich der Pariser Vergnügungstempel schlechthin: das Moulin Rouge.

1899 kommt Auguste Chabaud das erste Mal nach Paris, um sein mit 14 Jahren in Avignon begonnenes Kunststudium zunächst an der École Nationale des Beaux-Arts, später an verschiedenen freien Akademien fortzusetzen. Er lernt dort unter anderem Henri Matisse und André Derain kennen. Doch schon bald, wegen der finanziellen Schwierigkeiten des elterlichen Weinguts in Südfrankreich, ist er gezwungen, Paris zu verlassen und seinen Lebensunterhalt bei der Handelsmarine zu verdienen. Nach seinem Militärdienst in Tunesien kehrt Chabaud Anfang 1907 nach Paris zurück und mietet ein Atelier in Montmartre, welches sich zu einem Zentrum der zeitgenössischen Kunst und – mit seinen zahlreichen Nachtlokalen, Cafés, Cabarets, Zirkussen und Variététheatern – der Bohème entwickelt hat. 

Auch wenn Auguste Chabaud diesen Stätten des gesellschaftlichen und künstlerischen Austausches einen hohen sozialen Stellenwert beimisst, nimmt er innerhalb dieses Gefüges eine Außenseiterolle ein. Einsam, wie ein Verfolgter, durchstreift er die nächtlichen Straßen von Paris und hält ins elektrische Kunstlicht der Laternen, der Schaufensterbeleuchtung und der Leuchtreklame getauchte Szenen fest. Die Passanten, Flaneure und Pferdekutschen werden wie im Bild "Le Moulin Rouge, la nuit" (1907) zu Silhouetten abstrahiert, wogegen die anziehenden Lichter der "roten Mühle" zum Hauptmotiv werden. 

Chabaud besucht oft Etablissements, die, wie er in seinen späten Erinnerungen schreibt, "man auch beim allerbesten Willen schwerlich mit einer Kirche verwechseln wird". Zwischen 1907 und 1909 entwickelt Chabaud ein Liebesverhältnis zu Yvette, einer Prostituierten des Pariser Nachtlebens. In diese Zeit fallen auch die zahlreichen Darstellungen von Frauen aus dem Rotlichtmilieu. Es handelt sich dabei jedoch nicht um Portraits im eigentlichen Sinne: das blasse, stark geschminkte und von den Haarsträhnen halb verborgene Gesicht des Mädchens in "Fille à la cravate rouge" von 1907 wirkt distanziert und anonymisiert. Das Mädchen kann erst durch ihre durchsichtige Bluse, das leuchtende Hotel-Schild im Hintergrund und nicht zuletzt durch die Stimmung der nächtlichen Szenerie als Prostituierte gedeutet werden.

Eindeutiger sind Frauenakte wie in "Nu au lit de cuivre" (1907), die die Prostituierten auf ihren Zimmern zeigen. Doch auch hier scheint der Blick des Malers eher der eines Voyeurs. Die Frau ist ganz auf sich selbst bezogen, es scheint sich keine weitere Person im Raum zu befinden, die das Alleinsein der Frau mit ihrem Handspiegel stören könnte. In Bildern wie diesem tritt die ambivalente Haltung von Auguste Chabaud zu den Protagonistinnen des Nachtgewerbes zu tage – einerseits die Suche nach Nähe und Zärtlichkeit, andererseits die unüberbrückbare Distanz und Misstrauen gegenüber zwischenmenschlichen Beziehungen. Dieses persönliche Dilemma verarbeitet Chabaud in seinen Gedichten: "Je suffre d'etre seul et j'ai peur d'etre deux" - "Ich leide darunter allein und fürchte mich zu zweit zu sein."

Die während seiner Pariser Zeit entstanden Gemälde und Zeichnungen spiegeln jedoch auch noch eine andere Haltung des Künstlers wieder – die einer tiefen Abneigung gegen jeglichen Konformismus. Die Kritik an sozialen Missständen in Schriften Émile Zolas prägte Chabaud nachhaltig und spiegelt sich u.a. in der Tuschezeichnung "L'aveugle" (1907) wieder. Émile Zola beschreibt 1898 in seinem Roman "Paris" einen jungen Anarchisten, der die Kirche Sacré-Coeur auf dem Hügel des Montmartre in die Luft sprengen will – Chabaud setzt sich mit diesem architektonischen Symbol der Verschmelzung von kirchlicher und weltlicher Macht ebenfalls auseinander. Es entstehen eine Reihe von Bildern, die nicht den sakralen Prachtbau aus kreideweißem Travertin zeigt, der bis zu seiner Fertigstellung ungeheuere 40 Millionen Francs verschlang, sondern den verwitterten und beschmutzen Holzzaun als Grenze zu der grauen Realität und Anonymität des Stadtlebens.