Das Verwirrspiel um Inszenierung und Authentizität, um Lüge und Wahrheit in der Fotografie: Die Fotoserie "A Storybook Life" von Philip-Lorca diCorcia ist nicht das, wonach es aussieht.

Bei Philip-Lorca diCorcia ist nichts, wie es scheint: Seine hochstilisierten, Filmstills ähnlichen Fotoserien wie „Heads“ wirken auf den ersten Blick wie pure Inszenierung. Tatsächlich handelt es sich hierbei um – zwar mit präzise gesetztem Licht eingefangene, aber eben doch – Schnappschüsse, die auf der Straße und von wildfremden Menschen angefertigt wurden. Bei „A Storybook Life“ hingegen liegt der Fall genau umgekehrt: Hier erscheinen viele Fotografien direkt dem Alltag entnommen. Ein Auto in einer verlassenen Werkstatt, eine Frau beim Bügeln, ein festlich geschmücktes Wohnzimmer zur Weihnachtszeit: Die Hand des Künstlers, der das Setting oft sorgfältig arrangiert hat, sieht man den meisten Motiven nicht unmittelbar an. Das Verwirrspiel um Inszenierung und Authentizität, um Lüge und Wahrheit der Fotografie beginnt.

Familienfotos in der „White Chapel Gallery“

Schon formal bietet „A Storybook Life“ einen völlig anderen Zugang als die von diCorcia gern in Serie gefertigten, thematisch mehr oder weniger geschlossenen Fotografien. Der Name suggeriert zwei verschiedene Eigenschaften: Zum einen, dass es sich um die Bilder in einem gedruckten Fotobuch handelt, die hier als Sammlung zusammen präsentiert werden. Zum anderen verweist „A Storybook Life“ gleichzeitig auch auf die Narration hinter und zwischen den Fotos, die mit großer Raffinesse nicht nur einen Moment, sondern einen sich hieraus ergebenen Zusammenhang aus dem privaten Umfeld des Künstlers vortäuschen – und bei dem sich der Zuschauer angesichts des langen Zeitraumes, innerhalb dessen die verschiedenen Bilder entstanden sind, unweigerlich eine Chronologie, eine eigene Ordnung wünscht und hinzudenkt.

Die Anfänge der 1975 begonnenen und erst 1999 abgeschlossenen Reihe machten Fotografien von Freunden und Familie Philip-Lorca diCorcias, die er selbst bis dato als Nebenprodukte seiner künstlerischen Arbeit bezeichnete und die bis zu jener Zeit nur vereinzelt mitausgestellt wurden. Mit dem Wissen um einen Buchvertrag in Aussicht widmete sich diCorcia diesen Bildern noch einmal mit größerer Aufmerksamkeit, stellte einige zusammen und präsentierte sie schließlich in der „White Chapel Gallery“ in London. Er selbst sah die Ergebnisse seiner Arbeit übrigens erst zur Ausstellungseröffnung, als die fertig gerahmten Bilder schon an der Wand hingen.

Die Suche nach der roten Linie

Zuerst kam die Ausstellung, wie sie aktuell auch in der SCHIRN zu sehen ist, später endlich das lang geplante Buch, das schließlich überhaupt erst den Ausgangspunkt für „A Storybook Life“ bildet. Obwohl die ausgewählten Motive in beiden Formaten dieselben sind, entfalten sie doch eine jeweils unterschiedliche Wirkung. Das Buch manifestiert die gewollt gesetzte Chronologie der einzelnen Bilder allein durch die Reihenfolge der einzelnen Seiten in ganz besonderer Weise. In einem Interview mit der Online-Radioshow „The Speakeasy“ erklärt diCorcia, dass „A Storybook Life“ am besten chronologisch, von vorne nach hinten gelesen werden solle. Und auch in der Ausstellung können die Fotografien in chronologischer Reihenfolge wie vom Künstler gewünscht betrachtet werden, um so ihre gewollt verwirrende Wirkung zu entfalten.

Bei der Suche nach der roten Linie, die die einzelnen Motive zusammenhält, die eine Verbindung zwischen Frauen und Männern, zwischen Personen in ihrem privaten Lebensumfeld, zwischen scheinbar wahllos gefundenen Objekten und menschenleeren Räumen herstellen könnte, bleibt der Betrachter auf sich allein gestellt. Philip-Lorca diCorcia entscheidet sich nicht nur bewusst gegen eine Erklärung, gar eine tatsächliche Beglaubigung der Authentizität seiner Fotos – indem er beispielsweise seine persönliche Beziehung zu den einzelnen Personen offenlegen würde – er bezieht eben diesen Wunsch des Zuschauers ganz bewusst ein, um so ein irritierendes Moment hervorzurufen: Fotokunst vs. Fotojournalismus, dieser einfache Gegensatz funktioniert für diCorcia nicht. Die unglaublichsten Bilder können tatsächlich der nackten Realität entspringen, während uns so unendlich vertraut wirkende Motive gekonnt aufs Glatteis führen.

Die vom Künstler bewusst inszenierte Chronologie – jedes Bild erhält eine Jahreszahl und ist in einer bestimmten Reihenfolge zu sehen – fügt diesem Fragespiel eine weitere Komponente hinzu: Einige Personen werden im Laufe des Buches oder hier eben der Ausstellung mal älter, mal jünger. Auch das jeweilige Setting, die Möblierung eines Raumes beispielsweise oder die Bekleidung der Porträtierten, stehen manchmal im deutlichen Widerspruch zum vorgeblichen Entstehungszeitraum. Kenntnisse über Beziehungen und zeitliche Abläufe, Inszenierung und Schnappschuss bleiben als Fixpunkte zur Einordnung des Gesehenen unzuverlässig. Auch deshalb eröffnen Philip-Lorca diCorcias Fotografien in „A Storybook Life“ mal äußerst witzige, mitunter aber auch düstere Gefühlswelten, ungute Vorahnungen, die in Fotografien wie „Skopelos“ ihren Höhepunkt finden: Ein wehrloses, in unschuldiges Weiß gehülltes Baby, abgelegt im Schatten und ohne menschlichen Bezugspunkt, lässt die Assoziationsmaschine im Kopf unweigerlich anspringen.