Jean-Jacques Lebel ist ein französischer Künstler, Kunsttheoretiker, Kurator, politischer Aktivist und Happening-Veranstalter. Seit mehr als 50 Jahren ist er mit Erró befreundet. Ein Gespräch über Erró, sein Leben und seine Kunst.

Dorothea Apovnik: Sie lebten während der 50-Jahre in Italien und haben Erró in Florenz kennengelernt?

Jean-Jacques Lebel: Ich lernte Erró kennen als ich 15 Jahre alt war. Wir waren Studenten und sehr arm. Damals war Italien ganz anders als heute, es war wie ein mittelalterliches Land, dominiert vom Vatikan und der kommunistischen, der alten stalinistischen Partei. Erró und ich, genau wie viele andere Studenten, wurden nach Florenz geschickt um Kunst zu studieren. Der Renaissance wegen.

DA: Sie waren erstaunlich jung als Sie mit dem Kunststudium begannen?

JJL: Ich wuchs in einer kunstaffinen Familie auf, mein Vater war Kunsthistoriker. Er war mit Marcel Duchamp befreundet und schrieb auch seine Biographie. Erró und ich waren sofort wie Brüder, denn wir waren beide Fremde an diesem altmodischen Ort und ergänzten uns wunderbar.

DA: Sie waren damals schon mit Dada und dem Surrealismus vertraut. Erró nicht?

JJL: Erró wusste nicht einmal, dass so etwas überhaupt existierte. Er kam aus Island und in den Nachkriegsjahren gab es kaum Kommunikation oder kulturellen Austausch zwischen Island und Europa. Es gab keine Kunstbücher, keine Videos und es wurde auch nicht viel gereist. Er kannte nur die Malerei in der Tradition von Edvard Munch, aber von Collagen hatte er noch nie etwas gehört. Auf der anderen Seite wusste ich nichts über den deutschen Expressionismus, da es zu jener Zeit keine Ausstellungen oder Bücher in Frankreich über das Thema gab. Erró hingegen kannte sich sehr gut aus. Als Student wurde er in die DDR geschickt, reiste nach Dresden und sah dort Werke von Otto Dix, George Grosz und vielen anderen. Er besuchte auch Russland, ein Land in dem ich nie gewesen bin, denn ich war allergisch gegen den Stalinismus. Erró kümmert sich nicht darum, er wollte einfach nur Kunst sehen. So brachte er mir den Expressionismus näher und ich ihm Dada und den Surrealismus. Es war ein wundervoller Austausch.

DA: Erró zog 1958/59 nach Paris. Haben Sie ihn dazu motiviert?

JJL: Als Erró sein Studium beendet hatte, wäre er normalerweise wohl wieder zurück nach Skandinavien gegangen. Ich sagte: „Denk noch einmal darüber nach! Was erwartet Dich dort? Du wirst irgendwo als Kunstlehrer landen und Dich in der kulturellen Wüste verlieren." Natürlich ist die Landschaft herrlich und die Menschen sind wunderbar, keine Frage. Aber vom künstlerischen Standpunkt aus gesehen war es damals -- ich spreche natürlich nicht von heute -- eine Einöde. Erró verdankte seine ersten Erfahrungen mit Kunst dem isländischen Künstler Jóhannes Sveinsson Kjarval. Er war ein Genie, das Island mit dem Taxi bereiste und auch ein wenig verrückt war. Eines Tages kam er auch auf die Farm, auf der Erró mit seinen Eltern und Halbgeschwistern lebte. Erró, der gerade die Kühe melkte, sah diesen Mann und wunderte sich darüber, was dieser wohl tat. Kjarval brachte ihm daraufhin das Handwerk des Malens bei, und so wurde Erró Künstler. Dieser Mann war für Erró ein wichtiger Lehrer, nicht nur in künstlerischen Belangen. Doch außerhalb Islands hatte nie jemand etwas über Kjarval gehört, da er sein ganzes Leben lang in seiner Heimat geblieben war. Daher war es Erró bewusst, dass er den Ort, an dem er aufgewachsen war, verlassen musste.

DA: Wie würden Sie die Pariser Kunstszene zu jener Zeit beschreiben?

JJL: Die Ecole de Paris war langweilig und alles andere als lebendig. Die Menschen, denen es bewusst war, erkannten, dass sie am Ende war. Sie lebte nur durch den Kunstmarkt. Aber es gab eine Untergrundkultur, die Dadaisten waren noch am Leben. Man konnte auf der Straße Max Ernst, André Breton, Benjamin Péret oder Joyce Mansour treffen. Ich war mit einigen sehr gut befreundet und stellte sie Erró vor. Aber als junger Künstler musste man damals nach Amerika gehen, wo alles lebendig war. Damals, jetzt nicht mehr. Also kehrte ich 1960/61 in die Staaten zurück und Erró kam 1963. Es hat unser beider Leben verändert.

DA: Erró lernte in Amerika die Pop Art kennen. Heute wird er manchmal immer noch als Pop-Art-Künstler bezeichnet.

JJL: Nur blinde Leute sagen, er wäre ein Pop-Art-Künstler. Das ist ein furchtbares Missverständnis und eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise. Ich muss erklären, warum ich dem nicht zustimmen kann. Es gibt Elemente in Errós Kunst, die aus der Pop Kultur kommen, wie Mickey Mouse und Marilyn Monroe. Aber das spezifisch amerikanische Verständnis von Pop Art zielt auf die Glorifizierung von Konsumgütern ab. Erró aber kritisiert die Konsumgesellschaft. Und wenn man an die Anfänge der Pop Art zurückdenkt, so war sie nicht die Erfindung der Amerikaner. Richard Hamiltons berühmte Collagen beinhalten schon eine scharfe Kritik an der Konsumgesellschaft. Bei Roy Lichtenstein und Andy Warhol hingegen handelt es sich um deren reine Glorifizierung. Nach dem Motto: „Verändere die Welt nicht, sie ist gut wie sie ist!" So wurden sie zu Symbolen des Kapitalismus. Bei Erró war es das genaue Gegenteil: Er sagt: „Passt auf, es ist eine tödliche Falle!"

DA: Könnten Sie dafür ein Beispiel geben?

JJL: Schauen Sie sich das 1986 entstandene „Reagan Scape" hier in der Ausstellung an. Glauben Sie ein amerikanischer Pop-Art-Künstler hätte das machen können? Die Arbeit handelt von Präsident Ronald Reagan. Der Kopf der Freiheitsstatue ist statt mit Lichtstrahlen von einem Kranz aus nuklearen Waffen umgeben. Auf dem Dollarschein erkennt man Reagans altes Affengesicht. Alle die Welt dominierenden Menschen sind auf dem Bild vertreten, wie Michail Gorbatschow, François Mitterrand, Helmut Kohl, Fidel Castro, Ayatollah Khomeini und weitere. Man sieht Leonid Breschnew wie er sich in Reagan verwandelt. Ich meine, das hier ist doch keine Pop Art. Es ist ein Aufstand gegen Pop Art und die Welt, die Pop Art produziert. Gegen Pop Art als Propaganda für die Wall Street und das Pentagon. Also wie kann jemand nur Errós Arbeiten auf Pop Art reduzieren? Das ist einfach lächerlich.

DA: Gilt das auch für „Plane Scape" oder „Car Scape"?

JJL: „Car Scape" besteht aus einer Akkumulation von Autos, aber nicht alle Akkumulationen sind Pop Art. Erró geht zwar von populären Bildern aus, aber das Ergebnis ist keine Pop Art. Man muss diese Logik begreifen. Wenn man sich die vom Himmel fallenden Amerikanischen Kriegshelden in „Fish Scape" anschaut, schießen die genauso wie in Kriegsfilmen und Computerspielen. Sie schießen, töten und kauen Zigarren, aber sie landen auf Fischen. Sie haben diese beiden Elemente: auf der einen Seite die fallschirmspringenden GIs, die vom Himmel fallen und töten; und auf der anderen Seite die Fische. Zwei Welten, die nie zusammenfinden können.

DA: Erró kam 1963 nach New York. Glauben Sie, wenn man „Fish Scape aus den 1970er-Jahren mit seinen früheren amerikanischen Arbeiten wie dem „Food Scape" vergleicht, dass sich Errós Einstellung zu Amerika verändert hat?

JJL: Das ist eine gute Frage. Selbst jetzt, wenn man amerikanisches Fernsehen sieht, bekommt man nichts als Werbung. Es ist eine Gesellschaft, in der man nur durch Werbung existiert. Kennen Sie das Sprichwort „Du bist was Du isst"? Das ist genau das, wofür Amerika steht mit seiner Majonäse und seinen Burgern, die einen fettleibig und krank machen. In Amerika sind mehr als ein Viertel aller Menschen übergewichtig. Man sieht dreizehnjährige Kinder die schon 150 kg auf die Waage bringen. „Food Scape" besteht aus all diesem Gift.

DA: Und Sie denken, das war die Idee hinter der Arbeit?

JJL: Erró ist kein Schüler von Immanuel Kant. Er ist ein Künstler und nimmt alles durch seinen Haut, seine Gefühle und Sinneswahrnehmungen wahr. Er reagiert auf seine Umwelt. Anstatt den Konsum zu glorifizieren, wie Warhol es mit seinen Blumen oder Dollarnoten tut, verwendet Erró Dinge, von denen einem übel wird. Wenn jemand all das, was auf „Food Scape" dargestellt wird, hinunterschlucken würde, würde er sterben. Es ist Anti-Propaganda: gegen Chemie, gegen giftige Substanzen, die appetitlich aussehen. Es ist eine Reaktion auf New York und nicht auf die Pop Art. Malerei ist für Erró wie eine Barrikade gegen die Realität, um in dieser Welt zu überleben.

DA: Erró hat einmal geschrieben, er würde immer irgendwie wie ein Kind bleiben. Können Sie dem zustimmen?

JJL: Gott sei Dank! Es gibt wohl keinen Zweifel daran, dass Erró sich seine Kindlichkeit bewahrt hat. Wie ein Kind, das alles über Farben, Formen, Gerüche und über unmittelbare visuelle Wahrnehmungen begreift. Ein Kind findet zum Bespiel Gefallen an einer Sache oder auch nicht, anhand der Art und Weise, wie etwas riecht. Es mag jemanden oder nicht aufgrund des Klanges seiner Stimme. Erró macht dies mit seinen Augen.

DA: Es ist ein tiefes Verständnis durch visuelle Wahrnehmung und Gefühl.

JJL: Allerdings. Erró ist ein sehr emotionaler Mensch. Und die skandinavische Distanz ist nur eine Maske.DA: Erró hat einmal geschrieben, er würde immer irgendwie wie ein Kind bleiben. Können Sie dem zustimmen?

DA: In der Serie „Monsters" aus den 1960er-Jahren geht es um unterschiedliche Komponenten der Persönlichkeit.

JJL: Die „Monsters" bestehen aus zwei sich widersprechenden Persönlichkeiten. Sophia Loren etwa ist eine der schönsten Frauen der Welt, aber zugleich auch ein Monster. Das beschreibt exakt das Gefühl, wenn man in einem „Dazwischen Sein" gefangen ist. Oberflächlich betrachtet mag das manche Menschen an Arbeiten von Francis Bacon erinnern. Aber nein, es ist nicht so wie bei Bacon. Bacon hat seine Gesichter verformt und deren Angst zum Ausdruck gebracht. Bei Erró jedoch geht um den Konflikt zwischen zwei Möglichkeiten. Um zwei Persönlichkeiten, die in einer gefangen sind. In einem anderen Bild sieht man auf einer Seite Sokrates und auf der anderen einen Affen. Er ist ein großer Philosoph unserer abendländischen Kultur und ebenso, offensichtlich ein Affe.

DA: Erró führte in den 1960er-Jahren auch Performances und Happenings auf.

JJL: Happenings sind eine wichtige Erfahrung in Errós Leben. Eines seiner Happenings hieß „Gold Water", angelehnt an einen amerikanischen Politiker mit dem Namen Berry Goldwater. Erró machte sich einen Spaß aus seinem Namen: in anderen Worten Pipi. Also pinkelte Erró eine halbe Stunde lang mithilfe eines Reservoirs, das er auf seinem Rücken versteckt hatte, und am Boden liegende Sklaven tranken das Wasser. Es war eine theatralische Metapher dafür, wie er die Machtstrukturen in der kapitalistischen Gesellschaft betrachtete. Ein Mann pinkelt, ein Präsident oder Diktator, und die anderen, die trinken, sind jediglich Sklaven. Sehr einfach, aber doch sehr komplex. Erró war ein durchaus wichtiger Protagonist der Happening-Bewegung der 1960er-Jahren.

DA: Erró nahm auch an Ihren Performances teil.

JJL: In meiner Performance „Pour Conjurer l'esprit de catastrophe" tanzte er in einer Maske, zusammen mit dem bedeutenden japanischen Maler Tetsumi Kudo. Die Maskenskulpturen waren außergewöhnliche Kunstwerke. Erró fertigte sie aus auf Flohmärkten gefundenen Gegenständen. Keiner ist sich dessen so richtig bewusst, aber Erró ist ein großer Bildhauer. Er baute diese Objekte bevor er nach New York ging und verfrachtete sie in ein Lager. Aber er blieb länger in New York als erwartet. Die Person, die er gebeten hatte, die Rechnungen zu zahlen, tat dies leider nicht. Und so wurden alle diese Masken einfach weggeworfen und sind zerstört. Eine Tragödie, denn unter diesen Masken befanden sich einige seiner besten Arbeiten überhaupt.

DA: Also sind die Fotos und Videoaufzeichnungen das einzige, was von den Kunstwerken übrig blieb?

JJL: Ja. Und das gerade das ist Erró, das ist seine Lebensgeschichte. Es ist wichtig, Dinge zu erfahren, nicht sie zu konservieren und für immer zu erhalten. Die Erfahrung, das Erlebnis wird immer in Dir bleiben, in Deiner geheimen, persönlichen Erinnerung. Und wenn Dinge verloren gehen, dann ist das eben so. In den Isländischen Sagas findet sich eine nahezu buddhistische Haltung gegenüber der Akzeptanz der verrinnenden Zeit und der schwindenden Erinnerung. Kunst ist ein Versuch, die Spuren des Erlebten ein wenig länger zu bewahren. Man sollte sich keiner Illusion hingeben, alles wird verschwinden. Es ist traurig, aber man muss der Realität ins Auge blicken. Wir sind nicht ewig auf dieser Welt, wir sind nicht unsterblich, also sollten wir jede Sekunde leben, als wäre es die letzte. Ich denke, eine Funktion der Kunst ist es, uns die größtmögliche Intensität eines jeden Momentes wahrnehmen zu lassen. Wenn man Errós Arbeiten und die wunderbaren „Scapes" genau betrachtet, vor ihnen verweilt und meditiert, dann führt einen diese Akkumulation auf einen Pfad der Erkenntnis. Der einzige Weg aus diesem Wahnsinn heraus ist geistige Freiheit.