Hartnäckig hält sich der Mythos, zu einem wahren Künstlergenie gehöre seine psychische Instabilität. Kuratorin Carolin Köchling und Kunsthistorikerin Annika Landmann im Gespräch darüber, warum die finnische Künstlerin Helene Schjerfbeck davon befreit werden muss.
Die Kunsthistorikerin Annika Landmann promoviert an der Universität Hamburg über die Selbstbildnisse Helene Schjerfbecks. Im Rahmen ihrer Dissertation verbrachte die Deutsch-Finnin mehrere Forschungsaufenthalte in Helsinki und an der Universität Turku in Finnland. Aus ihrer Sicht zeichnen sich Schjerfbecks Selbstporträts durch eine besondere Vielschichtigkeit aus – sie sind Ausdruck ihrer künstlerischen Identität und werfen zugleich immer wieder aufs Neue die existenziellen Fragen des Menschseins auf. Am 28. Oktober macht sie eine Expertenführung in der Ausstellung "Helene Schjerfbeck". Vorab traf Kuratorin Carolin Köchling sie zum Gespräch.

Carolin Köchling: Als ich Ihnen das erste Mal von unserem Ausstellungskonzept erzählt habe, sagten Sie sofort, dass Sie es befürworten, dass wir Helene Schjerfbeck aus Ihrer Isolation herausholen. Können Sie diesen Zustand der Isolation und auch die davon gesteuerte Rezeption beschreiben?

Annika Landmann: Lange Zeit hat der Mythos Schjerfbeck die Rezeption ihrer Werke stark dominiert. Dies hat mitunter dazu geführt, dass die Biografie stark in den Vordergrund rückte. Es wurde ein "Image" geschaffen, das sie als menschenscheue, leidende Einzelgängerin darstellt.

CK: Können Sie diesen Mythos, den Sie ansprechen, genauer beschreiben?

AL: Das ist kein Einzelphänomen. Künstlermythen hat es im 19. und 20. Jahrhundert zahlreiche gegeben. Etwa die Verbindung von Leben und Werk, wie bei Frida Kahlo, Vincent van Gogh und so weiter, wo das Leben ganz genau untersucht wurde und dadurch ein Zugang zum Werk geschaffen werden sollte. Zu den Attributen eines "wahren Genies" gehörte seine psychische Instabilität. Der Künstler wurde pathologisiert, seine Isolation und sein Eremitendasein betont. Das Phänomen wurde in letzter Zeit in Finnland auch in Bezug auf Schjerfbeck untersucht. Der Künstlerinnenmythos wurde und wird Stück für Stück dekonstruiert. So wird immer deutlicher, dass das Schaffen keine Autobiografie in Bildern darstellt, sondern Schjerfbeck eine hochprofessionelle Künstlerin war, die sich mit der Kunst und den Themen ihrer Zeit intensiv auseinandersetzte.

CK: Sie arbeiten derzeit an einer Dissertation über Schjerfbecks Selbstportraits. Vielleicht können Sie ihre Dissertation kurz skizzieren? 

AL: Circa 40 Selbstbildnisse sind in einem Zeitraum von fast 70 Jahren entstanden. Diese "Studien des Ichs" haben Schjerfbeck also fast ihr ganzes Leben lang begleitet. In dieser Zeit hat selbstverständlich auf vielen Ebenen eine Entwicklung stattgefunden. Das betrifft nicht nur die malerische Entwicklung, auch das Konzept des Selbst, die Frage nach der menschlichen Identität, hat sich in dieser Zeit massiv verändert. Ich frage nicht nach der biografischen Entwicklung, meine oberste Instanz sind die Werke. Schjerfbeck hat fast ausschließlich den klassischen Renaissance-Portrait-Typus gewählt, also häufig das frontale Selbstportrait oder den Blick über die Schulter. Dadurch sind sich die Selbstbildnisse formal recht ähnlich. Doch obwohl Schjerfbeck sich äußerlich nicht ständig neu erfand und in verschiedene Rollen und Posen schlüpfte, ist die inhaltliche Bandbreite immens. Auf visueller Ebene werden Themen wie Altern, Gender, Angst, Leidenschaft, Kreativität und Tod verhandelt. Es sind Bildnisse, die einen sofort affizieren. Doch ist es mir wichtig, weder in die rein psychologisierende Perspektive noch in die rein formalistische Analyse reinzurutschen, sondern diese Ebenen zu verbinden. Am Ende soll dem Mythos auf den Zahn gefühlt werden ¬ Es wird gezeigt, dass sowohl die Selbstbildnisse als auch deren Rezeption ein Produkt ihrer Zeit sind. Sie geben Auskunft über die Auseinandersetzung mit der eigenen künstlerischen Identität, die an einen konkreten historischen und geografischen Raum gebunden ist. Andererseits werden in ihnen allgemein-menschliche Themen behandelt, die auch heute noch aktuell sind. Wie diese im Detail transportiert werden, das zu entschlüsseln, ist ein zentraler Aspekt meiner Arbeit.

CK: Sie haben in Ihrem Aufsatz über das "Selbstportrait mit rotem Punkt" Schjerfbeck zitiert, die sagt, dass sie das Innenleben ihrer Modelle mehr interessiert, als ihre äußere Erscheinung. Unsere Ausstellung fokussiert, dass Schjerfbeck nach Bildvorlagen gemalt hat und gar nicht so stark nach der Realität, die vor ihren Augen stattfindet. Ich will nicht bestreiten, dass sich die Figurenbilder durch eine enorme Präsenz auszeichnen, doch plädiere ich dafür, dass das durch die materiellen und suggestiven Mittel der Malerei entsteht und nicht durch Schjerfbecks Auseinandersetzung mit der realen Person. Eine formalistische Perspektive widerspricht der Aussage, dass es ihr um das Innere geht, wenn sie ihre Modelle kaum kennt? Oder was ist das Innere? Es ist offensichtlich keine Wahrheitssuche.

AL: Schjerfbeck betont in ihren Briefen immer wieder den emotionalen Zugang zu ihren Modellen. Sie ist interessiert an ihrer Ausstrahlung, ihrem Wesen. Beim Aufeinandertreffen von Malerin und Modell wird vielleicht so etwas wie eine neue Wahrheit geschaffen. Sie besteht primär aus einer Stimmung oder Atmosphäre, die Malerin und Modell verbindet. Sie ist es, die einem Bildnis seine Färbung geben kann. Diese drückt sich tatsächlich in der Farbe, aber auch in der Materialbehandlung aus.

CK: Das, worum wir jetzt kreisen, ist die Materialästhetik. Das Arbeiten am Bild durch Auf- und Abtragen der Farbe ...

AL: Genau, oder Produktionsästhetik, also der Bestandteil des Werkes, der etwas über den Entstehungsprozess aussagt und ihn zum wesentlichen Bestanteil des Bildes macht. Dieser offengelegte experimentelle Charakter setzt sich bei Schjerfbeck im beginnenden 20. Jahrhundert durch. Sie hat Werke zugeschnitten, kleiner gemacht und dann wieder zusammengeklebt, ganze Bildbestandteile weggekratzt und -gewischt oder übermalt. Ein sehr lebhaftes Arbeiten am Bild.

CK: Wir haben ein sehr schönes Frauenbildnis aus einer Privatsammlung als Leihgabe. Dabei handelt es sich zwar um eine "profane" Frau, allerdings sieht sie aus wie eine Madonna von El Greco. Andere Frauenbildnisse erinnern an die modischen Pariserinnen der Malerei Constantin Guys' oder die filigranen französischen Frauen, die Schjerfbeck unter anderem aus der Pariser Modezeitschrift "Chiffons" kannte. Diese Bildwelt, aus der Schjerfbeck schöpft, ist unheimlich reich, gerade gegenüber ihrer tatsächlichen physischen Isolation. Das will ich betonen.

AL: Sie hat ja auch unheimlich viel gesehen. Sie hat Kopien in der Eremitage angefertigt, sie hat in den 1880er-Jahren eine klassische künstlerische Ausbildung in Finnland und Frankreich erhalten und später wurden ihr von ihrem Kunsthändler Gösta Stenman die Originalwerke anderer Künstler gebracht. Sie hat sich ständig informiert, hat internationale Kunstbücher und -zeitschriften gelesen. Es stellt sich die Frage nach der Definition von Isolation. Sie war später nicht mehr im Zentrum des Geschehens, aber stand permanent im Austausch mit Kollegen, Fachleuten, Nachbarn, Menschen.

Annika Landmann, "Die Vitalität des Verschwindens. Helene Schjerfbecks 'Selbstporträt mit rotem Punkt' (1944)", in: Hermeneutik des Gesichts -- Das Bildnis im Blick aktueller Forschung, hrsg. von Uwe Fleckner (Schriften des Internationalen Warburg Kollegs, 5), Berlin (in Vorbereitung). Die Autorin arbeitet derzeit an einer Dissertation zu den Selbstporträts von Helene Schjerfbeck bei Uwe Fleckner und Tutta Palin (erscheint voraussichtlich 2015).