Die Vermissten Kinder des brasilianischen Graffiti-Künstlers TINHO waren Teil der Ausstellung STREET-ART BRAZIL. Jetzt berichtet er von den Straßen São Paulos über die Fußball-Weltmeisterschaft und die dunklen Seiten des weltweit gefeierten Spektakels.

Also wieder eine Weltmeisterschaft. Diesmal in Brasilien. Ich will einen Blick zurück werfen, genauer gesagt, auf den Tag, an dem Brasilien als Austragungsland der Weltmeisterschaft ausgewählt wurde. Wir Brasilianer waren sehr glücklich darüber. Nach 64 Jahren würden wir wieder Gastgeber des meistgesehenen Ereignisses der Welt sein. Präsident Lula erklärte stolz, wir würden die Weltmeisterschaft aller Weltmeisterschaften ausrichten und Unternehmen aus aller Welt würden den Bau und die Renovierung aller möglichen Stadien, Flughäfen und anderer für die Infrastruktur unseres Landes wichtigen Einrichtungen finanzieren. Und die Regierung würde in den öffentlichen Nahverkehr investieren, und an allen Austragungsorten der Weltmeisterschaft würde es große Verbesserungen geben. Das brasilianische Volk könne auf jeden Fall feiern, egal, wer Weltmeister wird, denn den größten Gewinn hätte das Volk schon von dem, was die Weltmeisterschaft im Land lassen würde.

Die Zeit verging, und die Investitionen ließen auf sich warten. Die Bauarbeiten verzögerten sich. Politische und firmeninterne Querelen behinderten Planung und die Verwirklichung von Infrastrukturmaßnahmen. Die Weltmeisterschaft rückte näher, und noch immer war viel zu tun. Auf das Risiko hin, alles zu verlieren, übernahm schließlich die brasilianische Regierung die Baumaßnahmen und bezahlte, da es ja eilte, sehr teuer dafür, dass alles noch rechtzeitig fertiggestellt werden konnte. Dringende Baumaßnahmen brauchen keine öffentliche Ausschreibung. Ein Paradies für das Abzweigen von Geldern, überteuerte Rechnungen, Korruption und Geldwäsche in unserem Land.

Im vergangenen Jahr schließlich holte uns die Realität ein, und wir, das brasilianische Volk, sind auf die Straße gegangen. Auslöser war die Erhöhung der Buspreise. Um 0,20 Reais. Menschenmassen gingen auf die Straße wie noch nie zuvor. Es ging nicht mehr nur um 0,20 Reais. Es war viel mehr: Das vernachlässigte Bildungssystem, die schlechte öffentliche Gesundheitsversorgung, mehrere Korruptionsfälle, die aus dem Ruder laufende öffentliche Sicherheit, der schlecht funktionierende öffentliche Nahverkehr, und noch eine ganze Reihe anderer Situationen, über die das Volk immer schon klagt, die es aber noch nie derart organisiert auf die Straße gebracht hatten. Immer schon sage ich, denn all diese Probleme gab es schon immer und es gibt sie noch heute. Doch die Weltmeisterschaft hat die Empörung gesteigert, bis die Leute endlich auf die Straße gegangen sind und nach Veränderung verlangten.

Wir sind nicht gegen die Weltmeisterschaft. Wir lieben Fußball und wollen Weltmeister werden. Wir wolle nur nicht für dumm verkauft werden. Wir wollen nicht, dass unser Steuergeld für den Bau von Stadien verschleudert wird. Wir wollen ein anständiges Bildungssystem, wollen in Krankenhäusern nicht nur aufgenommen, sondern auch nach Qualitätsstandards versorgt werden, wir wollen gerechte Politiker, wollen, dass die Justiz die Gesetze einhält, dass Verbrecher für ihre Verbrechen bezahlen, dass unsere Polizei uns beschützt, wir wollen pünktliche und verlässliche Nahverkehrsmittel, kurzum, wir wollen berücksichtigt werden beim Wachstum unseres Landes.Seit ich auf der Welt bin, erlebe ich das brasilianische Volk immer fröhlich, wenn eine Weltmeisterschaft ansteht. Alle tun sich zusammen, bemalen die Straßen, hängen Fähnchen auf, organisieren Feste, um die Siege der „Seleção" zu feiern. Für Brasilien zu sein war selbstverständlich, dagegen zu sein einfach undenkbar.

Dieses Jahr ist es anders. Nur wenige Straßen sind bunt, nur wenige Fähnchen wurden aufgehängt, die Spiele werden in der Kneipe verfolgt oder auf Großbildschirmen, die Firmen oder Regierungsorganisationen aufgestellt haben, Siege werden zu Hause gefeiert, und nicht wenige jubeln gegen Brasilien.

Wir wollen nicht, dass bei uns das passiert, was 1978 in Argentinien geschah. Wir wollen nicht, dass ein Sieg der brasilianischen Nationalmannschaft uns vergessen lässt, welche Probleme wir haben. Wir wollen nicht, dass alle korrupten Politiker Brasiliens wiedergewählt werden und alles danach wieder so ist wie vorher. Wir wollen einen neuen Weg, eine neue Geschichte, neue Leute in der Regierung, wollen Gerechtigkeit, Strafe für die Verbrecher, wollen stolz darauf sein, Brasilianer zu sein, aber vor allem wollen wir sehen, dass wir als Bevölkerung all dies einfordern und erreichen, dass es tatsächlich Wirklichkeit wird.

Die meisten Äußerungen an den Wänden in den Straßen im ganzen Land sind gar keine Bilder, und noch seltener Kunst. Meist sind es Sätze von ganz gewöhnlichen Leuten. Einige Künstler haben Bilder gemalt, auf denen die WM kritisiert wird. Doch die meisten haben etwas neben ihre üblichen Arbeiten geschrieben. Viele der ohnehin wenigen künstlerischen Arbeiten mit Bildern gegen die Weltmeisterschaft sind von den Stadtverwaltungen entfernt worden.

Die Medien haben an der Seite der Regierung und der großen Unternehmen gekämpft, gegen die Demonstrationen der Leute. Die größte Gewalt geht vom Staat aus und von den Repressionskräften der Militärpolizei. Demonstranten werden als Vandalen und Randalierer bezeichnet. Die aufgeworfenen Wahrheiten werden versteckt, vertuscht, verdreht, ignoriert oder zensiert. Die Zensur erreichte sogar die sozialen Medien. Posts sind auf mysteriöse Weise verschwunden und manche Accounts wurden entgegen der Nutzungsbedingung blockiert. Mein eigenes Instagram-Profil beispielsweise. Ich habe mir alle Bedingungen genau durchgelesen und hatte gegen keine davon verstoßen. Eine E-Mail an Instagram blieb bis heute unbeantwortet. Das war vor zwei Monaten.

Wie dem auch sei, nun läuft die Weltmeisterschaft. Wir empfangen Touristen, wie wir es schon immer getan haben. Mit viel Liebe, Herzlichkeit, Freundschaft und Respekt. Wir haben gern Leute aus allen Teilen der Welt zu Besuch. Wir sind Brasilianer. Die meisten von uns haben niemals die Möglichkeit, irgendwo hin ins Ausland zu reisen, sind meist nicht einmal in der Lage, im eigenen Land zu verreisen. Menschen aus anderen Ländern zu empfangen ist unsere Art, die Welt kennenzulernen. Geschichten über Geschichten zu erzählen und erzählt zu bekommen. Am meisten gefällt uns, wenn jemand etwas typisches von dort mitbringt, wo er oder sie herkommt. Im Gegenzug bieten wir ihnen all die guten Dinge, die es bei uns gibt.

Helfen Sie uns, gegen unsere Situation hier zu kämpfen. Helfen Sie uns, die Geschicke Brasiliens zu ändern. Und kommen Sie uns besuchen! Warten Sie nicht bis zur nächsten Weltmeisterschaft. Die brauchen wir nämlich nicht!