Zwischen Markt, Zensur und Megastadt hat sich in Schanghai eine lebendige Kunstszene entwickelt. Eine Beobachtung auf dem Schirn Magazin.

Die Kunst boomt in Schanghai. Seit der Gründung der ersten von mittlerweile fünf Kunstmessen und der Shanghai Biennale Mitte der Neunzigerjahre ist die Hafenstadt im Eiltempo zu einer der wichtigsten Kunstmetropolen der Welt aufgestiegen. Seit zwei Jahren befindet sich hier Chinas erste staatliche Institution für zeitgenössische Kunst, die Power Station of Art. In dem ehemaligen Elektrizitätswerk sind regelmäßig Ausstellungen mit chinesischen und internationalen Künstlern zu sehen, gerade hat dort die 10. Shanghai Biennale eröffnet.

Der Boom ist Symptom eines seit der Öffnung Ende der Siebzigerjahre freieren Chinas. Die Studienplätze an den Kunstakademien sind nicht mehr streng reglementiert. Junge Künstler inspirieren sich in der Kunst des Westens und in einer chinesischen Avantgarde, die seit den Achtzigerjahren künstlerische Ausdrucksformen wie Fotografie, Video und Installation für sich entdeckt. Vor allem ist dieser Siegeszug aber Symptom eines wirtschaftlich prosperierenden Chinas, in dem Kunst zu einem wichtigen Markt geworden ist.

Gleich mehrere Kunst-Quartiere zählt Schanghai heute. Das älteste ist M50. Im Zuge des Wirtschaftsbooms wuchsen in Schanghai Wolkenkratzer und postmoderne Glaspaläste in den Himmel -- Schanghai ist mit über 23 Millionen Einwohnern eine der bevölkerungsreichsten Städte der Welt. Doch in diesem Quartier säumen noch kleine Häuser und Lagerhallen die verwinkelten Gassen. Hinter den unscheinbaren Mauern finden sich einige der wichtigsten Galerien Chinas, Künstlerstudios, Kunstbuchläden und gemütliche Cafés.

Der 1962 geborene Ding Yi, einer der erfolgreichsten Maler der Volksrepublik, hat sich als einer der ersten im Kunst-Quartier M50 niedergelassen. Die alten Siedlungen entlang des Flusses Wusong seien im Zuge der Modernisierung fast vollständig zerstört worden, erzählt er, die Häuser hier seien nur erhalten geblieben, weil Künstler sie angemietet oder gekauft hätten. Ding Yi gehört zu den wenigen in China, die seit den Achtzigerjahren konsequent konkret-abstrakte Malerei betreiben. Strenge Kompositionen mit vertikalen, horizontalen und diagonalen Strichen überziehen seine Leinwände. Kleine Kreuze formen Muster, die auch an die Skyline der Megastadt erinnern. Mit einer Serie, in der er fluoreszierende Farben einsetzte, habe er sich ganz bewusst auf die leuchtenden Fassaden und die kletternden Börsenkurse des neuen Schanghais bezogen, sagt er.

Zu den bedeutendsten Galerien im Kunst-Quartier M50 gehört ShangART. Gerade ist dort die Ausstellung „Blissful as Gods" mit Arbeiten des 1977 geborenen Xu Zhen zu sehen, darunter aus Lederfetischobjekten zusammengesetzte, an Gemälde erinnernde Wandobjekte und Skulpturen, wie eine alabasterweiße europäisch-klassizistische Frauenfigur, die sich im mehrarmigen, goldfarbenen Körper einer fernöstlichen Gottheit wiegt. So versinnbildlicht Xu Zhen, wie sich China der westlichen Welt nicht nur ökonomisch annähert, sondern sich auch kulturell mit ihr auseinandersetzt. ShangART war eine der ersten Galerien, die Ai Weiwei vertrat. Der in Deutschland wohl bekannteste chinesische Künstler hatte vor einigen Jahren in Schanghai ein Studio gebaut. Die Behörden ließen es abreißen, kurze Zeit bevor er wegen angeblichen Steuerbetrugs für mehrere Monate ins Gefängnis kam. Seine Arbeiten werden in China nach wie vor konsequent aus Schauen entfernt.

Neben Galerien treiben in Schanghai vor allem Privatmuseen den Kunstboom an. Im November eröffnete etwa das von einer Bank finanzierte Minsheng-Kunstmuseum. Die erste Ausstellung ist eine Gruppenschau mit hunderten von Werken von über 50 Künstlern aus über zehn Ländern: Die Superlative haben längst Einzug in Chinas Kunstwelt gehalten. Mitten in einem Einkaufszentrum wurde das Himalayas-Museum platziert, gerade zeigt es eine Retrospektive mit abstrakten Arbeiten des irischen Malers Sean Scully.

Aber auch Überblicksschauen mit seit den Achtzigerjahren entstandenen Werken der neuen chinesischen Avantgarde sind in Schanghai zu sehen, etwa im Yuz-Museum, wo der indonesisch-chinesische Mäzen Budi Tek seine bedeutende Sammlung zeigt. Besonders sehenswert sind einige raumgreifende Installationen, etwa Huang Yongpings „Tower Snake" aus dem Jahr 2009, ein begehbares Python-Skelett, das zur Hälfte aus Bambus, einem traditionellen chinesischen Baustoff, und zur anderen aus Stahl, einem mit dem Westen und der Moderne assoziierten Material besteht.

Eindruck hinterlässt auch die Arbeit „Freedom" des Künstlerpaars Sun Yuan und Peng Yu. Die 2009 geschaffene Installation besteht aus einem meterhohen rostigen Stahlcontainer. Durch eingelassene Fenster blickt der Betrachter auf einen wie eine Kobra aufgerichteten Schlauch. Unter wildem Zucken spuckt dieser einen mit massivem Druck beförderten Wasserstrahl aus, der beängstigend gegen die Wände und Fenster des Containers peitscht. Auf beklemmende Weise vermittelt „Freedom" die Bedingungen der Kunstproduktion im modernen China. Eine hungrige, vom Markt beflügelte Generation neuer Künstler trifft dort auf staatliche Kontrolle und Zensur.