Bis zum Herbst ist in Darmstadt die Ausstellung „Wait, when the moon rises“ kostenfrei im öffentlichen Raum zu sehen. Darin zeichnen internationale Kunstschaffende ein Bild ihrer Umwelt, das von gegenseitigen Abhängigkeiten und Verwandtschaftsbeziehungen geprägt ist.

Bis zum 29. Oktober 2023 können surreale Interieurs, impressionistisch bearbeitete Fotografien und Märchen über unsere Umwelt im verschatteten Schlossgraben und am Herrngarten besucht werden. Sechs internationale Kunstschaffende zeigen ihre Positionen in „Wait, when the moon rises“ des Kunstforums der TU Darmstadt als Teil der 12. Darmstädter Tage der Fotografie. Mit Anleihen an die Geschichten der Gebrüder Grimm, materiellem Überfluss und realitätsverzerrenden Experimenten erkunden sie neue Perspektiven auf die Realität. Verloren im Urwald des Anthropozäns prägt der Mensch übermächtig seine Umwelt und kann sich doch nicht von ihrem Einfluss lösen. Erzählt wird dieses komplexe Thema durch das Medium der Fotografie, die mit digitalen Mitteln ergänzt, verzerrt oder verfremdet wird.

Vom Schlossmuseum zum Schlossgraben

Beginnend am Schlossmuseum und präsent an verschiedenen Stellen entlang der Ausstellungsroute präsentieren sich in collagierter Rahmung die fotografischen Porträts Leonard Suryajayas (Indonesien/USA) mit surrealer, opulenter Bildsprache. Die Vielzahl der Farben, Muster und Materialien der fotografierten Räume sowie IKEA-Tüten-Kleidung, Luffaschwamm-Sonnenbrillen, Blumenschmuck und Nippes spiegeln die ethnische, kulturelle und religiöse Diversität der porträtierten Personen wider, die in freundschaftlichem oder verwandtschaftlichem Verhältnis zueinander und zum Künstler stehen.

Leonard Suryajaya (Ausstellungsansicht), Foto: tristan Bortlik
Leonard Suryajaya: Rabbit Hole, aus der Serie "Parting Gift", 2012 (c) Leonard Suryajaya

Einen Ausstellungsort tiefer begegnen uns im Schlossgraben die digital-impressionistischen Fotografien von Eeva Karhu (Finnland). En plein air in der Parkanlage präsentiert, erinnern die Fotografien nicht nur durch die kuratorische Setzung an die Freilichtmalerei, wie sie u.a. von Impressionist*innen wie Camille Pissarro betrieben wurde, um den spontanen visuellen Eindruck wiederzugeben: Die mehrfach übereinandergelegten Fotografien von Karhus Waldspaziergängen sind teilweise violett, rot oder blau eingefärbt. Die Ebenen sind mit Hilfe digitaler Bildbearbeitung in an Blattwerk erinnernde Sprenkel zerrissen. Aus größerer Entfernung tritt der Wald hinter das Farbenspektakel zurück, was das Bildmotiv in impressionistischer Manier wie flüchtiges Sonnenlicht im Blattwerk flimmern lässt. Erst bei näherer Betrachtung werden die digitalen Collagen aus Fotografien und Farbflächen erkennbar.

Vom Schlossgraben zum Herrngarten

Der Künstler Sharbendu De (Indien) stellt am Ende des Schlossgrabens mit Anleihen an die Märchen der Gebrüder Grimm die Beziehung der indischen Minderheit Lisu mit der sie umgebenden, bereits vom Menschen geprägten Natur dar: Kinder verirren sich im Wald, der durch die Hintergrundbeleuchtung wie ein Bühnenbild seines realen Selbst erscheint. Ein Abenteurer mit Spielzeugmachete und seinem Hund als treuen Begleiter ist im Begriff, in ein ausgeleuchtetes Abflussrohr im Urwald zu steigen, vielleicht auf der Suche nach den im Wald verschwundenen Kindern. Durch die nachts oder in den Abendstunden fotografierten Landschaften sind die Drucke verschwommen und körnig, was sie wie heimlich fotografierte, abseitige Gegebenheiten erscheinen lässt. Doch zugleich wird diese Mystik durch die artifizielle Lichtinszenierung des Künstlers untergraben: Die durch den Menschen veränderte Natur konterkariert die märchenhafte Gefahr einer ursprünglichen, bedrohlichen Umwelt. 

Eeva Karhu: Summer 1, aus der Serie "En plein air", 2012 (c) Eeva Karhu
Sharbendu De: Children Explore the Mythical Forest, aus der Serie "Imagined Homeland", 2018 (c) Sharbendu De

Weiter auf dem Spaziergang stellt an der Ecke zum Herrngarten Jesus Torío (Spanien) vierfarbige experimentelle Drucke zur Schau. Interessiert an der Ästhetik der Zerstörung von Bildmaterial verfremdet er seine Fotografien, vereinfacht sie, reduziert die Detailtiefe und fügt stotternde Druckerstreifen hinzu. Unter Toriós Bildern ist unter anderem eine bearbeitete Fotografie von David Hockneys „Portrait of an Artist (Pool with Two Figures)“ zu entdecken. Sie wirkt wie von einem fehlerhaften Drucker ausgegeben. Mit der Folge, dass das Gemälde durch die unvollkommene Reproduktion seine einzigartige Aura ganz im Sinne von Walter Benjamin einbüßt.

Von der Hochschulstraße bis zur Erich-Ollenhauer-Promenade

Vor der TU Darmstadt in der Hochschulstraße beschäftigt sich Sandra Kantanen (Finnland) ebenso wie einige ihrer Vorgänger*innen mit der beeinflussten Natur. Sie lässt in ihren Smokescreen-Werken die Vergangenheit von Wäldern, in denen im Zweiten Weltkrieg Bomben fielen, durch farbige Rauchbomben wieder aufleben. Bäume, Blattwerk und Wasser sind mit digitalen Pinseln bearbeitet, die Strukturen verwischt, verzerrt oder ineinander verwachsen. Vor den ausgeräucherten Wäldern schmilzt das Blattwerk auf der Bildoberfläche, sodass vor und nach dem Betätigen des Kameraauslösers der menschliche Einfluss auf den Wald sichtbar wird. Die kreisrunden Endpunkte der Pinselstriche verraten ihren digitalen Ursprung.

Sandra Kantanen: Untitled Forest 17 small, 2019 (c) Sandra Kantanen
Jesus Torío (Ausstellungsansicht), Foto: Tristan Bortlik

Etwas abseits auf der Erich-Ollenhauer-Promenade erforscht Mia Dudek (Polen) zum Abschluss in Form von Oberflächenstudien die Verbindung vom Menschen zur Natur und Architektur. In Porträts von Haut- und Betonoberflächen und stark vergrößerten Pilzfruchtkörpern gleichen sich Belebtes und Unbelebtes durch ihre Palette farbiger Grautöne aneinander an und werden so visuell auf eine Ebene gesetzt.

In ihrer Auseinandersetzung mit der durch den Menschen veränderten Umwelt ergänzen die internationalen Künstler*innen ihre Fotografien mittels digitaler Bildbearbeitung. Sie verzerren das Ausgangsmaterial spielerisch, verzichten auf eine cleane Ästhetik oder reduzieren ihre Farbpalette bis zur grauen Einheitlichkeit. Immer im Mittelpunkt ist dabei ein märchenhaftes und manchmal zynisch kommentiertes Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, das von den teilnehmenden Kunstschaffenden durch ihre jeweilige künstlerische Praxis und Perspektive individuell eingefangen wird. Was die Ausstellungsbesucher*innen daraus mitnehmen können? So stark die Künstler*innen ästhetisch in das Ausgangsmaterial eingreifen, so stark interveniert der Mensch auch stets in seine Umwelt. Europäische wie nicht-europäische Perspektiven auf die verwandtschaftlichen Abhängigkeiten des Menschen und der experimentelle Umgang mit Fotografie laden die Besucher*innen ein, auch die eigenen Beziehungen zueinander und zur Natur neu zu denken.

Mia Dudek: Fruiting Body 1, aus der Serie "Fruiting Bodies", 2020, (c) Mia Dudek
Mia Dudek (Ausstellungsansicht), Foto: Tristan Bortlik
Kunstforum der TU Darmstadt

Wait, when the moon rises...

Bis zum 29. Oktober 2023

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